Das Landessozialgericht hat eine Mindestmenge bei der Versorgung von Frühgeborenen gekippt. Die Streitigkeiten zwischen Kliniken beendet das nicht.

Stuttgart - Noch immer schwelt ein Streit zwischen den kleineren und größeren Kliniken um die Versorgung der Frühchen – inzwischen weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Vordergründig geht es um die Frage, ob Kliniken nur dann die kleinsten Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm versorgen dürfen, wenn sie eine bestimmte „Mindestmenge“ erreichen, wie sie der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) im vergangenen Jahr vorgegeben hat. Hintergründig geht es freilich auch um Einnahmen für die Kliniken und um das Renommee als Geburts- und Kinderklinik.

 

Vier Kliniken aus der Region unter den Klägern

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat fürs Erste die Mindestmenge gekippt, das schriftliche Urteil soll im Februar vorliegen. Schon jetzt ist absehbar, dass der Streit in die nächste Instanz gehen wird. Unter den 41 Klägern finden sich einige Häuser aus der Region, deren Chefärzte der Kinderkliniken erst einmal aufatmen können: mit geklagt haben die Rems-Murr-Kliniken, die Klinik am Eichert in Göppingen, das Esslinger Klinikum sowie die Kliniken Ludwigsburg-Bietigheim.

So unversöhnlich wie sich vor dem Landessozialgericht die Kontrahenten gegenübergestanden haben, so tief sind die Gräben zwischen den betroffenen Kliniken in der Region Stuttgart. Streitbarer Vertreter des größten Hauses ist Matthias Vochem, der Chefarzt des Perinatalzentrums in der Frauenklinik in Bad Cannstatt, in der im Jahr zwischen 80 und hundert Frühchen unter einem Geburtsgewicht von 1500 Gramm geboren werden. Vochem ist auch nach dem jüngsten Urteil überzeugt, dass die Zentrenbildung in der Neonatologie nicht aufzuhalten ist, sondern sich lediglich verzögere. „Wir haben die Erfahrung und die Kompetenz gebündelt, unsere Neonatologen und Schwestern haben schlicht die Übung, weil sie ständig Frühchen an der Grenze zur Lebensfähigkeit versorgen müssen.“ Diese Routine wiederum fehle in kleineren Häusern. Sein Kollege Matthias Walka von den Kliniken Ludwigsburg-Bietigheim, die im vergangenen Jahr 40 Frühchen unter 1250 Gramm betreut haben, kontert, dass die Versorgung in den großen Kliniken keineswegs automatisch besser sei als in den mittelgroßen Krankenhäusern. „Die Zahlen sagen uns, dass es mittelgroße sehr gute Kliniken gibt und große Häuser mit weniger guten Ergebnissen und umgekehrt.“

Richter sprechen von Willkür

Das Landessozialgericht jedenfalls konnte nach Durchsicht der vorliegenden Studien keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität in der Frühchenversorgung ausmachen. Nicht überzeugend war für die Richter auch, dass vom GBA Mindestmengen nur für Frühgeborene mit weniger als 1250 Gramm eingeführt worden sind, während zugleich die Mindestmengen für Frühchen zwischen 1250 und 1500 Gramm abgeschafft worden sind. „Das ist Willkür“, bilanziert ein Gerichtssprecher.

Ebenfalls befremdlich war für die Juristen, dass in den vorliegenden Studien nur nach der Sterblichkeit gefragt werde, nicht aber danach, welche Folgeschäden die Kinder davontrügen. „Im Moment gilt die Klinik als erfolgreich, die es schafft, möglichst viele Leben zu retten. Danach, wie es den überlebenden Kindern geht, wird nicht geschaut“, kritisiert der Gerichtssprecher und mahnt eine Diskussion darüber an.

Kleinere Kliniken fürchten um ihr Renommee

Matthias Vochem vom städtischen Klinikum kritisiert etwas anderes: „Die Bereitschaft, Hochrisikoschwangere rechtzeitig in Zentren zu verlegen, hat durch die Mindestmengen und den Streit nachgelassen.“ Jetzt seien die Kliniken viel eher darauf bedacht, eine hohe Zahl an kleinen Frühchen zu halten. Sein Kollege Matthias Walka räumt ein, dass die mittelgroßen Krankenhäuser ein großes Interesse daran haben, die winzigen Patienten zu halten. Dabei gehe es nicht um die Fallpauschalen, die bei Frühchen unter 600 Gramm bei 85 000 Euro liegen und für ein Kind mit 900 Gramm bei 45 000, vielmehr gehe es um das Renommee der ganzen Klinik: „Wenn wir die Expertise in der Neonatologie verlieren, würde sich das auf das Versorgungsniveau der Kinderklinik insgesamt auswirken“, sagt Walka. „Das wollen wir verhindern.“