Der FC Bayern feiert die Meisterschaft, Knut Kircher seinen Abschied: Die Karriere des Rottenburgers endet nach 244 Spielen. Die Bundesliga verliert nicht nur einen erstklassigen Schiedsrichter, sondern auch eine große Persönlichkeit.

Rottenburg/München - Er hätte das Ende noch ein bisschen hinauszögern können. Um zwei Minuten, vielleicht auch um drei. Doch Knut Kircher gewährt sich keine Nachspielzeit. Es ist Samstag, 14. Mai 2016, 17.19 Uhr. Der Schiedsrichter holt noch einmal tief Luft, hebt beide Arme nach oben – und pfeift pünktlich ab. Das Spiel des FC Bayern gegen Hannover 96. Die Bundesliga-Saison 2015/16. Und seine Karriere.

 

In den Sekunden danach prasselt enorm viel auf Knut Kircher ein. Philipp Lahm, Fußballweltmeister und Kapitän des FC Bayern, ist der Erste, der dem Unparteiischen aus Rottenburg-Hailfingen die Hand entgegenstreckt. Während seine FCB-Kollegen sich zum Meister-Kreisel aufstellen und die Titelsause beginnt, sagt der 1,70 Meter große Kicker zum 1,96 Meter großen Schiri: „Alles Gute für die Zukunft!“ Ein paar Augenblicke später steht Pep Guardiola vor Kircher. Auch der scheidende FCB-Trainer bedankt sich für die gemeinsame Zeit, nimmt den Kopf des Schiedsrichters in beide Hände und drückt ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Kircher ist sichtlich gerührt. „Da hat es mich schon kurz gepackt“, sagt er, „obwohl ich ja eigentlich auf alles vorbereitet war.“

Der Abpfiff kommt nie überraschend. Nicht nach 90 Minuten. Und auch nicht am Ende der Laufbahn. Mit 47 Jahren erreichen Bundesliga-Schiedsrichter die Altersgrenze, dann werden sie des Feldes verwiesen. Verlängerung? Gibt es nicht. Auch nicht für die Besten.

Die Reise ist perfekt geplant – wie immer

Knut Kircher gehört seit Jahren zur Elite der schwarzen Zunft. 2001 pfeift er sein erstes Bundesliga-Duell. TSV 1860 München gegen den 1. FC Nürnberg, Endstand 1:0. Es folgen weitere 242 erstklassige Partien und sein Abschiedsspiel in München. Der FC Bayern ist längst Meister, Hannover 96 abgestiegen. Für die Mannschaften geht es um nichts mehr, für Kircher schon. Er weiß: Der letzte Eindruck bleibt haften. Deshalb ist auch seine abschließende Reise als Schiedsrichter perfekt durchgeplant, er selbst voll fokussiert und konzentriert. So wie immer in den vergangenen 15 Jahren.

Los geht es am Freitagnachmittag. Der Maschinenbauingenieur Kircher schafft bei Mercedes-Benz in Sindelfingen, als Teamleiter Testing für Dachöffnungssysteme. Um kurz nach 15 Uhr klappt er den Laptop zu, fährt zum Stuttgarter Hauptbahnhof und wartet auf den ICE. Gleis 15, Abfahrt 16.16 Uhr. Gut zwei Stunden später kommt er in München an. Am Bahnsteig steht eine Legende des FC Bayern München.

Adi Weber, 79, ist die gute Seele des Vereins. Seit 53 Jahren betreut er bei Spielen in München die Schiedsrichter, in der Bundesliga und im Europapokal. Von Kreitlein bis Krug, von Collina bis Cakir, von Meier bis Merk – er kennt sie alle. Einst ist er mit den Pfeifenmännern nächtelang um die Häuser gezogen, doch heute geht es gesitteter zu. „Die aktuellen Schiedsrichter müssen für ihren Sport leben“, sagt Weber, früher Verkaufsleiter bei Löwenbräu, und lobt Kircher in höchsten Tönen: „Er hat auf dem Feld eine unglaubliche Ausstrahlung, ist immer fair und nie arrogant. Und menschlich ist er mir ohnehin einer der Liebsten.“

Lobeshymnen vor dem letzten Spiel

Die gegenseitige Sympathie ist auch beim Abendessen spürbar. Im Nymphenburger Hof stimmt sich Kircher mit Weber, seinen langjährigen Assistenten Thorsten Schiffner und Robert Kempter sowie Dominik Schaal, dem vierten Offiziellen, bei Scampi-Pfännchen, Spargel und Grünem Veltliner auf das Spiel ein. Anekdoten aus dem Fußball würzen das Menü. Und natürlich geht es auch um den Abschied. Schiffner und Kempter halten eine bewegende Rede, schenken ihrem Chef ein riesiges, gerahmtes Bild, das sie vor der Partie des Hamburger SV gegen 1899 Hoffenheim im März zeigt. Schaal hat den Nachtisch organisiert – eine Himbeer-torte mit der Aufschrift „Legends never die!“ Auch Andreas Derler, Wirt des Nobelrestaurants, ist gerührt. „Ich werde Herrn Kircher vermissen“, sagt er, „und das nicht nur, weil er gerne gutes Essen genießt, sondern vor allem, weil er ein sehr angenehmer Mensch ist.“

Um kurz vor Mitternacht wartet im Hotel Hilton, direkt am Englischen Garten gelegen, die nächste Überraschung auf Knut Kircher. Jürgen Hausmann, seit mehr als 20 Jahren Schiedsrichterbetreuer von Hannover 96, ist extra angereist, um beim letzten Spiel seines Freundes dabei zu sein. „Er ist ein Schiedsrichter mit einer sagenhaften Autorität und Ausstrahlung, die sonst keiner in Deutschland hat“, sagt Hausmann und prostet Kircher in der Hotelbar mit einem Caipirinha zu. „Bei ihm akzeptieren die Spieler selbst falsche Entscheidungen. Das gibt es selten.“

Am nächsten Morgen trifft sich das Schiedsrichter-Team zum Frühstück. Schiffner, von Beginn an Begleiter Kirchers, hat Geburtstag – und kein Problem damit, dass dennoch ein anderer im Mittelpunkt steht. „Der deutsche Fußball verliert heute einen großen Schiedsrichter, und das nicht nur, weil er knapp zwei Meter ist“, sagt der nunmehr 41-Jährige, ein Spezialist an der Seitenlinie, der auch international winkt. „Knut ist ein toller Kommunikator, wird von Spielern und Trainern respektiert, bringt aber auch ihnen großen Respekt entgegen. Er ist eine echte Persönlichkeit.“ Derjenige, dem diese Lobeshymne gilt, kommt gerade mit Müsli, Joghurt, Weißwürsten und einer Waffel mit Apfelmus vom Büfett. „Ein guter Motor“, sagt Kircher und schaut an sich hinunter, „braucht auch den entsprechenden Kraftstoff.“

Abschied in der Allianz Arena

Drei Stunden später steigen die Unparteiischen, einheitlich gekleidet in dunkle DFB-Anzüge samt Krawatte, in den VW-Bus des FC Bayern. Abfahrt ins Stadion. Um 13.27 Uhr erreicht das Quartett seine Kabine in der Allianz-Arena. Es gibt einen schnellen Kaffee, dazu den Ablaufplan. Alles ist minutiös geregelt. Von der Stollenkontrolle bis zur Weißbierdusche bei der Meisterfeier. Die Bayern-Verantwortlichen überlassen nichts dem Zufall. Die Schiedsrichter auch nicht. Um 13.33 Uhr geht es in Richtung Rasen.

Draußen im Tunnel riecht es nach frisch gemähtem Gras. An der Wand hängen große Bilder mit Spielszenen des FC Bayern. Auf einem ist im Hintergrund Knut Kircher zu erkennen. Es wurde bei der Partie gegen den FC Augsburg aufgenommen, am vierten Spieltag. Der Schiedsrichter wendet sich mit einem Grinsen Robert Kempter zu: „Da war doch was . . .“ Richtig, da war was: Der Assistent hatte nach einem Zweikampf zwischen Douglas Costa und Markus Feulner kurz vor Schluss einen Elfmeter angezeigt, Kircher sich darauf verlassen und gepfiffen. Eine Fehlentscheidung. Der FC Bayern siegte dank des Geschenks mit 2:1, das Gespann stand stark in der Kritik. Kircher entschuldigte sich öffentlich, stellte sich aber vor seinen Assistenten. „Knut sieht immer nur das Team, nie sich selbst“, sagt Kempter, „Nach dem Fehler hat er mich sofort aufgebaut und gemeint, ich hätte ihn auch schon oft gerettet. Diese Reaktion war alles andere als selbstverständlich.“

Aber bezeichnend für Kircher. Der Mann, für den Respekt wichtiger als jede Regel ist, steht nun mit einem Ball in der Hand im Tor vor der Südtribüne der Allianz-Arena und testet das Hawkeye-System. Wenn die Kugel die Linie überschreitet, vibriert eine Uhr am Handgelenk und zeigt „Goal“ an. Alles funktioniert. Früher war Kircher gegen technische Hilfsmittel, heute ist er froh über diese Art der Unterstützung. Und auch auf den anstehenden Test mit dem Videobeweis gespannt: „Es wird weiterhin Fehlentscheidungen und Stoff für Stammtischdiskussionen geben. Aber zumindest der Bock mit dem falschen Elfmeter wäre uns mit dem Videobeweis erspart geblieben.“

Besuch von Rummenigge

Es folgt das übliche Programm: kurze Massage, Ansprache ans Team („Konzentriert bleiben, auch im letzten Spiel!“), Warmlaufen. Zehn Minuten vor dem Anpfiff klopft Karl-Heinz Rummenigge an die Tür der Schiedsrichterkabine. Der Vorstandsboss des FC Bayern überreicht zwei Abschiedsgeschenke: eine Ball-Statue und ein FCB-Trikot. Auf dem Rücken ist keine Nummer, stattdessen steht dort: „Servus Knut.“ Rummenigge sagt, dass die Mannschaft sich bei Kircher stets gut aufgehoben und gerecht behandelt gefühlt habe – und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Über die fünf Niederlagen müssen wir noch mal reden.“

Das Abschiedsspiel ist die 45. Partie mit Bayern-Beteiligung, die Kircher leitet. Für keine Mannschaft hat er öfter gepfiffen. Was nur zeigt: Der Rottenburger gilt als Mann für die besonderen Aufgaben. Gegen Hannover 96 ist er allerdings kaum gefordert. Vier Tore, eine gelbe Karte, kaum Fouls, keine strittige Situation – wie immer strahlt Kircher große Ruhe aus, behält stets den Überblick. Zwei kurze Meinungsverschiedenheiten mit Jérôme Boateng und Manuel Neuer, das war’s. „Er hat alles problemlos gemeistert“, sagt DFB-Beobachter Helmut Geyer über den Schiedsrichter, der in seiner Karriere nur 17 Profis vom Platz gestellt hat (weniger als jeder andere). „Sein Umgang mit den Spielern ist vorbildhaft.“

Nach dem Abpfiff erlebt Kircher erstmals eine Meister-Ehrung mit. Er hat sich mit seinen Kollegen auf die Bank von Hannover 96 geschlichen. Beheizte Sitze, beste Aussicht, ein trockenes Plätzchen – selbst bei den exzessiven Bierduschen. Anschließend geht Kircher hinüber vor die Gegengerade, wo seine Frau Sabine, seine Eltern, Freunde und alte Weggefährten sitzen. Er winkt ihnen zu – und die gesamte Tribüne klatscht Applaus. Der große Mann verdrückt eine kleine Träne. Weil er merkt, dass ihn nicht nur die Spieler und Trainer schätzen, die ihn regelmäßig unter die beliebtesten Schiedsrichter gewählt haben, sondern sogar die Zuschauer. Es ist auch eine Anerkennung dafür, dass er immer zu seinen Fehlern und zu seiner Meinung stand, ohne sich selbst in den Mittelpunkt stellen zu wollen. Dafür haben die Fans eine feine Antenne.

Was bringt die Zukunft?

Gegen 19.30 Uhr ist der Arbeitstag von Kircher in der Allianz-Arena vorbei, seine Abschiedsvorstellung jedoch noch lange nicht. Er lädt ins Seehaus im Englischen Garten ein, zur letzten großen Sause, die erst gegen halb vier morgens an der Hotelbar endet. Wieder kommen Überraschungsgäste. Der Fifa-Schiedsrichter Felix Brych, am Nachmittag in Hoffenheim im Einsatz, schaut mit seinen Assistenten vorbei. „Knut Kircher ist ein äußerst angenehmer und sehr humorvoller Kollege“, sagt der Unparteiische, der auch bei der EM in Frankreich pfeifen wird, „seine Souveränität und Kommunikationsfähigkeit sind beispielhaft. Ich habe mir sehr viel von ihm abgeschaut. Er muss dem deutschen Schiedsrichterwesen erhalten bleiben. Das verlangen wir Aktiven von ihm.“

Damit gibt Brych die Antwort auf die Frage, die Kircher – allem Wehmut zum Trotz – an seinem Abschiedswochenende am häufigsten gestellt wird: ob er künftig eine Aufgabe in der DFB-Schiedsrichterkommission übernehmen wird, der Regierung der Pfeifenmänner. Allen ist klar: Kircher wäre für diesen Job optimal geeignet. „In der Kommission gab es zuletzt große Probleme, was soziale Kompetenz und Menschenführung angeht“, meint Jürgen Hausmann. Und Adi Weber sagt: „Frischer Wind kann an dieser Stelle sicher nicht schaden.“ Kircher, so viel steht fest, will seine Erfahrung einbringen, in welcher Form auch immer.

Zunächst wartet eine andere wichtige Aufgabe auf ihn: Während der Pfingstferien begleitet er den 14-jährigen Timo, einen seiner drei Söhne, zu einem Turnier nach Lloret de Mar. Dort kickt Timo mit der C-Jugend der SG Hailfingen. Kircher ist als Vater und Fan dabei, und doch ist nicht ausgeschlossen, dass seine Karriere nun doch noch in die Verlängerung geht. Was er denn tun werde, wenn bei dem Jugendturnier in Katalonien ein Schiedsrichter ausfällt, wird er vor der Abfahrt gefragt. „Pfeife und Klamotten habe ich eingepackt“, sagt Kircher.