Kommt der Volksentscheid über Stuttgart 21 oder nicht? Grüne und SPD wollen erst nach dem Stresstest endgültig entscheiden.

Stuttgart - Die Größe eines politischen Problems lässt sich auch daran bemessen, um welche Zeitspanne sich eine Pressekonferenz verschiebt, auf der die Lösung dieses Problems verkündet werden soll. Nimmt man diesen Maßstab, so standen am Donnerstag die Unterhändler von Grünen und SPD bei ihrem Ringen um Stuttgart 21 vor einer veritablen Herausforderung.

 

Als Winfried Kretschmann, der designierte Ministerpräsident, und SPD-Landeschef Nils Schmid mit einstündiger Verspätung ihre Verhandlungsklause im Haus des Landtags verließen, machten sie daraus auch keinen Hehl. "Der Dissens in der Sache ist geblieben", sagte Kretschmann. Sein künftiger Vizeministerpräsident Schmid ergänzte: "Wir waren uns einig, dass wir in der Sache uneinig sind." Man habe auch gar nicht erst versucht, sich gegenseitig zu bekehren. Vielmehr sei es darum gegangen, einen Verfahrensweg zur Lösung des schwelenden Konflikts zu finden.

"Für die Volksabstimmung", sagt Schmid

SPD-Chefunterhändler Schmid trug immerhin eine grüne Krawatte zum wie üblich dunklen Anzug. Das war sein Beitrag zur atmosphärischen Entkrampfung des Gesprächs, das so unterschiedliche Stuttgart-21-Kombattanten wie den früheren Projektsprecher Wolfgang Drexler auf SPD-Seite und auf Grünen-Seite Tübingens OB Boris Palmer sowie den grünen Chefverkehrspolitiker im Bundestag, Winfried Hermann, an einen Tisch führte. Schmid witzelte dann noch, er verfüge als SPD-Chef über "eine gewisse Erfahrung darin, wie man mit unterschiedlichen Positionen respektvoll miteinander umgeht". Eine nette Anspielung auf die innere Zerrissenheit der SPD in Sachen Stuttgart 21, die Schmid mit dem Vorschlag einer Volksabstimmung aber während des Wahlkampfs überwinden oder zumindest zudecken konnte. Der Preis dafür war eine gewisse Irritation in der Öffentlichkeit, wofür die SPD denn nun eigentlich stehe.

"Für die Volksabstimmung", antwortet Schmid regelmäßig auf solche Vorhaltungen. Er werde keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem die Bürger nicht über Stuttgart 21 bestimmen dürften. Kretschmann äußerte sich zuletzt nicht viel anders. "Grundsätzlich" stünden die Grünen zu der Volksabstimmung. In der Juristensprache bedeutet die Formulierung "grundsätzlich", dass auch Ausnahmen möglich sind. Kretschmann nannte dafür im Interview der Stuttgarter Zeitung zum Beispiel den Ausstieg der Bahn aus dem Projekt. Dann mache eine Volksabstimmung keinen Sinn mehr.

Auch beim nächsten Treffen wird es wohl keine Klärung geben

Die Sprachregelung nach dem Verhandlungspoker am Donnerstag klang etwas anders. Kretschmann sagte: "Wir haben vereinbart, dass jetzt der Stresstest kommt, danach grundsätzlich die Volksabstimmung." Bei den Grünen herrscht die Erwartung oder jedenfalls die Hoffnung vor, dass der Stresstest eine Kostenlawine auslöst, die eine Volksabstimmung überflüssig macht und das Ende von Stuttgart 21 einläutet. Die Grünen berufen sich auf den Schlichter Heiner Geißler, der ein solches Szenario mit den Worten kommentiert hatte: "Was soll man da noch über eine Leiche abstimmen lassen." SPD-Chef Schmid wollte nicht widersprechen. Auf die Frage, wann denn der Leichnam ein Leichnam sei, antwortete er: "Das unterliegt einer Bewertung nach dem Stresstest." Kretschmann raffte sich zu der Bemerkung auf: "Das läuft uns nicht davon, das können wir nach dem Stresstest entscheiden."

Doch die Schwelle zwischen Leben und Tod ist zumindest im Fall Stuttgart 21 breit. Nach einer Vereinbarung der Projektpartner Bahn, Bund und Land liegt sie bei Kosten von 4,5 Milliarden Euro für den Tiefbahnhof. Bei jeder Summe über diesen Betrag hinaus, so die bisherige Sprachregelung, müsse man reden. Für die Grünen ist das Projekt jenseits dieser Grenze allerdings erledigt, bei der SPD dagegen ist dazu mancherlei zu hören. Zum Beispiel, dass das Land kein zusätzliches Geld mehr geben könne. Aber auch, dass Stuttgart 21 doch unmöglich wegen 100 oder 200 Millionen Euro Mehrkosten scheitern dürfe. Kretschmann und Schmid wollten sich am Donnerstag zu solchen Details nicht einlassen. Das Thema ist auch noch nicht ausdiskutiert, nächste Woche will man sich erneut zusammensetzen, um an einer Formulierung im Koalitionsvertrag zu feilen. Freilich dürfte auch von diesem Treffen keine vollständige Klärung zu erwarten sein.

Verabschieden sich die Grünen vom Wahlversprechen?

Die Grünen verweisen darauf, dass eine Volksabstimmung für die Projektgegner schwer zu gewinnen sei, weil sie nicht nur eine Mehrheit in der Abstimmung benötigen, sondern auch ein Quorum von einem Drittel aller stimmberechtigten Bürger erreichen müssen. Die SPD hält dagegen, dass diese Regelung schon lange in der Landesverfassung nachzulesen sei, den Grünen also bekannt war, als sie ihre Wahlplakate für eine Volksabstimmung druckten. Immerhin beteuerten Kretschmann und Schmid, dass beim Stresstest "volle Transparenz" herrschen müsse. Außerdem forderten beide Politiker die Bahn auf, bis zum Abschluss des Stresstests "keine weiteren Fakten zu schaffen". Schmid mahnte seine Partei wie auch die Grünen, sich der "großen Verantwortung" bewusst zu sein.

Die SPD müsse im Fall einer Niederlage im Volksentscheid bereit sein, das Projekt über Jahre hinweg abzuwickeln, die Grünen stünden umgekehrt in der Pflicht, den Bau von Tiefbahnhof und Schnellstrecke mitzutragen. Der Konflikt schwelt also weiter - und ist so gewichtig, dass am Donnerstag sogar die Landes-FDP für einen Moment von ihren innerparteilichen Personalquerelen abließ und eine Pressemitteilung absetzte. Die zögerliche Haltung von Kretschmann zu einem Volksentscheid mache deutlich, "dass sich die Grünen von ihrem Wahlversprechen verabschieden".