Cannabis freigeben? Die Pflegepolitik korrigieren? Oder lieber den ländlichen Raum stärken? Am Besten alles zusammen – wenn es nach den zahlreichen Organisationen ginge, die derzeit versuchen, auf die grün-schwarzen Unterhändler einzuwirken.

Stuttgart - Koalitionsverhandlungen sind die hohe Zeit für Lobbyisten. Wer jetzt keine Forderung stellt, braucht keine mehr zu stellen. Quasi im Halbtagesrhythmus melden sich Verbände und Ligen, Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitsgemeinschaften zu Wort, um die Unterhändler argumentativ zu massieren: Die künftige Regierung soll, muss, darf auf keinen Fall.

 

Ob das wirkt, ist eine ganz andere Frage, denn im Grunde wissen die handelnden Personen ja genau, wo die Industrie, die Landfrauen oder das Handwerk der Schuh drückt. So sind die öffentlich erhobenen Forderungen dieser Tage vor allem PR in eigener Sache. Und eine Gedächtnisstütze.

Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, empfiehlt es sich auch, Gleichgesinnte zu suchen. Melden sich mehrere Verbände konzertiert zu Wort, wirkt das gleich nicht mehr so egoistisch. „Die Stärkung des ländlichen Raums muss Schwerpunkt in der neuen Legislaturperiode werden“, postuliert deshalb gleich ein gutes Dutzend Organisationen – von der Arbeiterwohlfahrt über den Gemeindetag bis zur Zentralwohlfahrtsstelle der Juden. Und natürlich: Man stehe als Gesprächspartner bereit.

Auch der Bund der Steuerzahler, in den Parteizentralen kein Unbekannter, hat sich prominente Schützenhilfe gesichert, um vor einer Mehrbelastung bei der Grund- und Grunderwerbssteuer zu warnen: Der Landesverband der baden-württembergischen Industrie steigt ebenso mit ins Boot wie der Handwerkstag und der Landesverband der steuerberatenden und wirtschaftsprüfenden Berufe.

Beim Nabu sind auch Christdemokraten in den Spitzenämtern

Ob die Unterhändler den Wunschzettel überhaupt noch überblicken können? Wohl kaum. Dazu schießen die Forderungen zu sehr ins Kraut. Die neue Regierung muss „den Kurs in der Pflegepolitik korrigieren“ (Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste), sich „auf neue Bildungswege einlassen“ (Elternvertreter), eine „geringen Menge an straffreiem Cannabisbesitz festsetzen“ (Grüne Jugend), „Parität bei der Vergabe der Ministerposten“ herstellen (Landesfrauenrat), Einsparungen im Bildungsbereich vermeiden (Jusos), aber auch „die überfälligen Reformen in Kitas, Schulen und den die Hochschulen fortsetzen“ (GEW). Und natürlich müssen auch die Belange der Wirtschaft wieder unter ein Dach kommen (Handwerkstag).

Dass auch die Naturschützer die Gunst der Stunde nutzen wollen, versteht sich von selbst. „Nachhaltigkeit soll Markenkern von Grün-Schwarz werden“, fordert der Nabu-Landesverband. Sonst noch was? Man müsste annehmen, dass die Unterhändler diese Flut von Papier in die große Ablage befördern. Doch so einfach ist es nicht. Denn zum einen gibt es Größenunterschiede zwischen den Lobbyisten: Einige von ihnen haben einfach aufgrund ihrer kritischen Masse etwas „zu sagen“. So bringt etwa der Nabu-Landesverband mit rund 80 000 Mitgliedern mehr Menschen auf die Waage als die CDU. Zum andern sind viele Verbände ja auch so etwas wie politische Vorfeldorganisationen für die Parteien – mithin also enorm wichtig für die Verankerung der Parteien in der Gesellschaft.

Beim Nabu zum Beispiel sind natürlich viele Grüne aktiv und in Amt und Würden. Doch nicht nur. Auch Christdemokraten finden sich in den Spitzenämtern. So meldete sich dieser Tage zum Beispiel das Nabu-Vorstandsmitglied Oliver Rastetter, der auch CDU-Bürgermeister der badischen Gemeinde Lauf ist. Er wünsche sich, dass die guten ökologischen Konzepte der Union auch in Baden-Württemberg umgesetzt werden, erklärte Rastetter: „Mit diesem frischen Wind könnte die CDU an ihre Traditionen im Umwelt- und Naturschutz anknüpfen.“ Grün-Schwarz also in Reinkultur. Da kann die neue Koalition nicht einfach weghören.