Auch im erwachsenen Alter hat der Mensch manchmal ganz schlichte orale Bedürfnisse. Unsere Kolumnistin hofft aber, dass sie denen nicht öffentlich nachgeht.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Lesen bildet. Lesen fördert die Konzentrationsfähigkeit und trainiert das Gehirn. Wer liest, ist angeblich sogar ein besserer Mensch. Trotzdem würde ich das Lesen am liebsten verbieten lassen. Zumindest in der Öffentlichkeit. Dieser Tage saß neben mir ein Mann im Zug. Sobald er in seinen Roman eintauchte, begann er reflexhaft, nein, nicht nur in der Nase zu bohren, sondern umgehend die erlesenen, aromatischen, delikaten, exquisit-kulinarischen Köstlichkeiten aus seinem Riechorgan in den Mund zu stecken und vom Finger zu sutscheln. Zum Glück war die Zugfahrt nicht lang genug, um so oft Hilfe, Igitt und Pfui Teufel zu rufen, wie ich hätte mögen.

 

Das wirklich Schlimme an der Situation war weniger, dass ein erwachsener, intelligenter Mann bei der anspruchsvollen Lektüre eines Romans von Cees Noteboom in einen so gänzlich enthemmten Zustand verfällt wie ein Dreijähriger bei der Sendung mit der Maus, sondern dass sich dieser Mann seit Jahrzehnten öffentlich durchs Leben nasbohrt, ohne davon die geringste Ahnung zu haben. Da stellt sich doch sofort die bohrende Frage, ob auch mir schon Tausende Zugfahrer angewidert zuschauen mussten, wie ich nach aromatischen, delikaten, exquisit-kulinarischen Köstlichkeiten fahnde? Oder gehöre ich eher zu jenen, die in Konferenzen die Schuhe unterm Tisch ausziehen und sich zwischen den Zehen kratzen?

Lakritzschnecken mit den Zähnan abrollen und einsaugen

Eine Freundin schaudert es nicht etwa, wenn Leute an den Nägeln kauen oder am Brillenbügel nagen. Richtig schlimm findet sie, wenn jemand mit oral-orgiastischer Lust Lakritzschnecken knabbernd mit den Zähnen abrollt und einsaugt. Das sei unanständig. Irgendwie auch ordinär. Wenn man sich oral befriedigen wolle, könne man doch eine Runde am Kuli lutschen. Oder ein wenig am Parkticket knabbern. Und falls man es mal heftiger braucht, sagt die Freundin, könne man die Eckzähne gezielt in einen weichen Bleichstift treiben. „Das verschafft höchste Befriedigung“.

Jetzt ist mir irgendwie auch oral zumute. Aber nachdem ich kürzlich Kinder zu Besuch hatte, sind sämtliche Filzstiftdeckel bereits zernagt wie alte Hundeknochen. Der Kuli schmeckt nicht so richtig. Und in die Tastatur kann ich nicht beißen, weil ich die Hände brauche, um mich unterm Tisch zwischen den Zehen zu kratzen. Sieht ja keiner. Und falls je doch, wäre es arg nett, wenn man mich bei Gelegenheit darauf hinweisen würde.