Der Mensch muss essen. Aber was? Fischstäbchen sind die Underdogs der Kindernahrung – zu Unrecht, findet unser Kolumnist Martin Gerstner. Welchem Kind ist schon mit Haute Cuisine gedient?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Der Mensch muss essen. Auf dieser simplen Erkenntnis basiert hierzulande eine Dienstleistungsindustrie, deren Töpfe immer unter Dampf stehen. Sie inszeniert jedes Rezept wie die Auferstehung Jesu in einem mittelalterlichen Kodex. Sie erklärt, wie mit dem Rotationsverdampfer ein gefälschtes Jägerschnitzel aus Melonen-Kaviarmousse in weniger als 13 Stunden gelingt, und dickt Esskastanien zu Strudel und Eis ein. Sie entwirft Szenarien, in denen pausbäckige Mütter in putzigen Landhäusern am Rande der Stadt beladen mit Fisch, Fleisch und Gemüse vom Markt wanken, dann zuppeln und schneiden, schälen und garen, braten und flambieren. Wenn die Kinder aus der Schule kommen, bietet der Esstisch das Bild eines Barock-Stilllebens mit Hühnern, Hasen, Obst, Silberkelchen und all dem anderen Zeug.

 

Das Fischstäbchen hat in diesem Szenario keinen Platz. Dabei hat es vermutlich mehr zur familiären Befriedung beigetragen als alle Erziehungsratgeber und Kochbücher zusammen. Es verkörpert sinnbildlich die alte christliche Arbeitsanweisung „Macht euch die Erde untertan“. Wobei in der Bibel nicht steht, man solle Lebewesen in rechteckige Formen pressen und schockgefrieren. Da aber nicht sicher ist, ob es sich bei Fischstäbchen im Ursprung überhaupt um Lebewesen handelt, ist das nicht so schlimm. Für die Zubereitung eines Fischstäbchens reicht es, den Herd anzuschalten und den Temperaturregler ungefähr auf 12 Uhr zu stellen. Dann geht man in den Keller und räumt die Waschmaschine aus.

Der Rotationsverdampfer hat Pause

Das Kochen für Kinder könnte also einfach sein, wäre da nicht die aufgeregte Debatte, derzufolge Kinder dick, dumm oder verhaltensauffällig werden, wenn ihnen nicht Vitamine zugeführt und sie nicht vom allgegenwärtigen Zufluss minderwertiger Fertignahrung abgeklemmt werden. Deshalb gibt es Kochbücher für Eltern mit kleinen, großen, mittleren oder pubertierenden Kindern, für Kindergeburtstage, christliche Feiertage und schmale Zeitfenster. Dort finden sich Rezepte für Gemüsebreie, Brotgesichter, Aufläufe, Schüttelpommes, Knusperreis oder Nuss-Zaziki. Alles Gerichte, die ein normales Kind mit angewidertem Gesicht stehen lässt, um sich dem für alle Fälle bereitgehaltenen Teller mit nackten Nudeln zuzuwenden.

Die Phase der nackten Nudel geht später in die Phase der nackten pubertierenden Rebellion über. Fleisch essenden Eltern wird erklärt, welche Hölle sich hinter der Massentierhaltung verbirgt. Der Einwand, man esse doch sowieso wenig Fleisch und nur am Wochenende mal ein Stück aus regionaler Bodenhaltung, wird mit einem Gesichtsausdruck quittiert, in dem sich die ganze Alles-oder-nichts-Haltung des Heranwachsenden verdichtet. Eltern sollten dennoch entspannt bleiben und das kochen, was sie selbst gerne essen. Das können auch Fischstäbchen sein. Übrigens: wenn man drei bis vier aufeinanderstapelt, lässt sich dahinter eine halbe Möhre verstecken. Oder man stellt mit dem Rotationsverdampfer ein Linsen-Johannisbeer-Gel mit Lakritzsauce her. Sieht cool aus und ist in kaum sieben Stunden fertig.