Oskar Beck meint, dass wir Schlaumeier von der Presse in Sachen Fußball und Krise alles besser wissen. Nur hören die Trainer, wie Alexander Zorniger vom VfB Stuttgart, nicht auf uns.

Stuttgart - Als Ottmar Hitzfeld noch der beste Trainer der Welt war, hat er uns Sportjournalisten mit den sehnsüchtigen Worten beneidet: „Wir Trainer müssen Fragen beantworten – ihr müsst sie nur stellen.“

 

Aber das ist inzwischen vorbei.

Wir Sportjournalisten geben, wenn den Trainern nichts mehr einfällt, jetzt auch die Antworten, wie beim VfB. Wenn Alexander Zorniger auf uns hören würde, wäre die Krise schlagartig bewältigt, aber offenbar liest er weder die Stuttgarter Zeitungen noch „Bild“, dessen VfB-Reporter neulich ein Mikrofon in die Hand nahm und binnen einer Minute mittels Video die komplette VfB-Krise schnell und unbürokratisch ungefähr so erklärte: „Hinten fallen zu viele Tore, vorne zu wenig, und Harnik schießt aus drei Metern vorbei.“

Kürzer und prägnanter kann man es nicht sagen, da wird der Finger in alle Wunden gelegt, um den heißen Brei nicht lange rumgeredet und die Krise auf den Punkt gebracht – aber Zorniger verschließt Augen und Ohren, pfeift auf die besten Ratschläge von uns Schreiberlingen, wittert als wahren Krisengrund lieber die Bosheit einer finsteren Macht, die im Hintergrund rätselhaft ihren Schabernack treibt, und hat sich vor ein paar Tagen getröstet: „Sogar Lucien Favre, einer der besten Trainer der Liga, bekommt dann Probleme.“

Alle wollten auch Lucien Favre helfen

Weg ist er jetzt sogar. Dabei wollten auch dem Gladbacher Trainer alle helfen. Aber der Schweizer zermarterte sich lieber Tag und Nacht das Hirn und stocherte mit der Stange im Nebel – statt einfach Zeitung zu lesen, den „kicker“ zum Beispiel. Sofort hätte er dann gewusst, was er alles falsch macht, denn das Fachorgan des Fußballs schrieb: „Favre muss die Experimente beenden. Er muss Lösungen finden und keine Rätsel aufgeben.“ Auch die größte deutsche Zeitung hat unter der Überschrift „Bild analysiert die Fehler von Favre“ wieder alles schlüssig erklärt, von der „wilden Wechselei“ bis zum „Taktik-Wirrwarr“. Warum hat Favre die professionelle Hilfe nicht angenommen? Vermutlich glaubte er bis zuletzt an das, was wir Journalisten noch vor ein paar Wochen geschrieben haben – damals war er noch unser Bester.

Ach, waren wir alle fasziniert von diesem Meister der Menschenführung und Taktikfuchs. Einen blitzschnellen Konterfußball ließ er spielen, ein Rädchen griff ins andere, Favre wurde in einem Atemzug genannt mit der Gladbacher Legende Hennes Weisweiler – und dass er im Fall eines Guardiola-Abgangs sogar gut genug für den FC Bayern sein könnte, haben wir Journalisten noch kürzlich so plausibel begründet wie zuletzt unsere These, dass diese Krücke einen Fehler am anderen macht.

Wir Schlaumeier wissen alles, und vor allem besser – schon der unvergessene ARD-Rateonkel Robert Lembke („Was bin ich?“) verriet in seinen Ursprungszeiten als Sportjournalist: „Das Problem beim Fußball ist, dass die einzigen Leute, die genau wissen, wie man spielen müsste, auf der Pressetribüne sitzen.“ Dunkle Mächte, die im Untergrund spuken und willkürlich üble Spielchen treiben? Mit so abstrakten Fantasien fangen wir Fußballkritiker in der Krise nichts an, wir brauchen Sündenböcke aus Fleisch und Knochen, die man an die Wand nageln kann.

Favre wurde verfolgt vom Fluch der guten Tat, wer einmal Wunder vollbringt, muss immer Wunder vollbringen. Vor sechs Jahren trainierte er Hertha BSC fast zur Meisterschale, aber als er dann die Eckpfeiler Simunic, Woronin und Pantelic nicht gleich ersetzen konnte, wurde der Hexer gefeuert. Danach machte er aus den abstiegsreifen Gladbachern ein Spitzenteam, und als er Dante, Neustädter und Reus problemlos ersetzte, hieß es: „Favre hat seine Berliner Lektion gelernt.“ Favre hat auch noch Ter Steegen und Arrango ersetzt, aber das Handauflegen funktioniert eben nicht jedes Jahr, und über Nacht schreiben wir plötzlich wieder: „Krise kann er nicht – wie damals bei Hertha.“

Mourinho feuert gerne mal zurück

Die Trainer mögen uns nicht. José Mourinho feuert in einer Pressekonferenz gerne mal zurück: „Wollten Sie Trainer werden, und es hat nur zum Sportjournalisten gereicht?“ Man muss das verstehen: Ein Trainer drückt monatelang die Schulbank, büffelt die kompliziertesten Taktiken unter Einbeziehung der Einsteinschen Relativitätstheorie, nimmt Nachhilfestunden in Psychologie, studiert die Abgründe der Kohlehydrate – aber in der Krise findet er keine Antwort, während wir Journalisten die Lösung geschwind aus dem Ärmel unseres Traumjobs schütteln, für dessen Ausübung folgende Grundvoraussetzungen vollkommen reichen: Ein abgebrochenes Studium, eine peinliche Halbbildung und die richtige Antwort auf die Frage, ob ein Fußball eckig oder aus Pergamentpapier ist – wer es weiß, darf mit dem Kugelschreiber sofort losziehen und aller Welt erklären, was falsch läuft.

Ist, um auf den VfB zurückzukommen, beispielsweise Zornigers Spielsystem falsch? Geht bei diesem Überfallfußball der Schuss zwangsläufig öfter nach hinten los? Muss sich Zorniger ändern und selbst über den Haufen werfen?

Diese Debatte erinnert an Ralf Rangnick. Der war um die Jahrtausendwende herum in puncto Taktik ein Revolutionär. Wir Deutschen kannten bis dahin nur die sture Manndeckung mit Ausputzer – und waren platt, als der Backnanger Visionär eines Abends im ZDF-Sportstudio sein innovatives System mit Kreide an eine Tafel malte: die ballorientierte Raumdeckung mit Viererkette und Pressing. Die Ulmer Spatzen hoben damit ab zu ihrem Höhenflug in die Bundesliga, und vor dem Fernseher soll die Frau von Bundestrainer Ribbeck an jenem ZDF-Abend gesagt haben: „Mensch, Erich, das habe sogar ich verstanden – warum lässt Du nicht so spielen?“

Rangnick, der alte VfBler, erlag danach dem Rückruf aus Cannstatt, aber bevor der Revoluzzer auch dort seine nachhaltige Philosophie anbringen konnte, wurde er in der ersten Krise gefeuert: Vereinsführung, Fans und Journalisten forderten sogar allen Ernstes, „Prof. Dr. Rangnick“ (so der damalige „Bild“-Bundesligatester Max Merkel) möge sein kompliziertes Spielsystem überdenken – genauso gut könnte man ein Rennpferd nach drei Niederlagen am Stück fragen, ob es fortan nicht als Hund an den Start gehen will.

Wir Sportjournalisten sind so. Wir lieben die einfachen Wahrheiten, denken immer nur bis zum Tellerrand des Moments und fragen uns deshalb jetzt auch in Sachen Zorniger: Wann springt dieser sture Bock von der Ostalb über seinen Schatten und bespricht die Aufstellung mit dem „kicker“, mit „Bild“ oder uns? Wenn er mit dem VfB diese Woche gegen Hannover und Gladbach gewinnen will, muss er der bitteren Wahrheit endlich ins Auge schauen: Wir Griffelspitzer können zwar keinen Ball geradeaus spielen, haben aber die Weisheit mit Löffeln gefressen.