Wiederaufbau nach dem Krieg, Alleinerziehend in den 70er Jahren: In Deutschland haben wir schon ganz anderes geschafft. Nun sind wir so stark, dass uns Terror vielleicht erschreckt, aber nicht erschüttert. Eine Kolumne von Jörg Thadeusz.
Stuttgart - Ich habe dann doch nicht auf die Narkose verzichtet. Der Professor musste also die Schraube in meinen Unterarm treiben, ohne dass ich ihn bei seiner Arbeit beraten konnte. Oder letztens im ICE. Wir würden gleich Wolfsburg erreichen. Nach meinem Eindruck haben wir sehr spät gebremst. Wie oft haben Sie schon vor der Tür zum Führerstand gestanden und beinahe geklopft? Einfach nur, um das Gespräch mit dem Lokführer zu suchen. Kann doch sein, er braucht einen wirklich gut gemeinten Rat. Früher bremsen. In den Kurven lockerer durchrollen lassen.
Der Platz hinter der Fleischtheke von Herrn Lindow ist für mich tabu. Bisher. Denn was sagt denn schon ein Metzger-Meisterbrief, wenn man so viel Gegrilltes gegessen hat wie ich? Ich bin wurstkompetent. Bisher hat mich Herr Lindow nicht danach gefragt. Aber ich stünde ratparat. Die meisten Menschen in meinem Bekanntenkreis wursten nicht. Wissen nicht, wo im ICE der „An“-Knopf ist. Zum Glück muss sich keiner von uns selbst operieren. Dafür haben wir zwei Fähigkeiten, die uns verbinden: Wir wissen, wie die Nationalmannschaft zu trainieren ist. Wir können Deutschland besser regieren. Ganz wichtig: Nicht einfach an der Regierung sein. Sondern sich über eine amtierende Regierung besserstellen. Die Bundeskanzlerin traut uns Großmäulern und Besserwissern einiges zu. Denn „wir schaffen das“ meint doch wohl uns alle. Für mich ist dieses „wir“ von Angela Merkel ein Kompliment. Wenn ich mich nur in meinem kleinen „wir“ umsehe, dann halte ich ihre Zuversicht für berechtigt. Meine Schwägerin hilft Flüchtlingskindern mit den Hausaufgaben. Meine Schwiegermutter sortiert Klamotten in einer Kleiderkammer.
Jeder zehnte Deutsche engagiert sich
Die beiden schaffen „das“ nicht allein. Müssen sie auch nicht. Denn nach einer Umfrage der Evangelischen Kirche engagiert sich jeder zehnte Deutsche für Flüchtlinge. Millionen Leute, die in der Tagesschau sehen mussten, wie Frauen, Männer, Kinder im Mittelmeer ertrinken und entschieden haben: So geht es nicht. Eine einzelne Kanzlerin kann das nicht verhindern. Aber wir können das. Wir sind die Nachfahren von Menschen, die es schaffen wollten, ein total zerstörtes Land aufzubauen. Wir sind Teil einer Generation, die es schafft, ein ehemals getrenntes Land zu vereinen. Wir haben Schwiegermütter, wie ich eine habe. Die von hässlichen Zweiflern umzingelt war, als sie es in den Siebzigern als Alleinerziehende mit zwei Kindern schaffen musste.
Die Kanzlerin braucht keinen Rat
Heute kommt uns „Patchwork-Familie“ so locker über die Lippen, als sei der Kampf um Anerkennung für sie und zigtausend andere Frauen gar nicht schwer gewesen. Auf Berliner Straßen kauern keine jungen Soldaten, um von enthemmten Passanten mit Gürteln verprügelt zu werden. Bei uns paradieren auf ein und derselben Straße an einem Tag die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dann Fußball-Ultras. Und kurz darauf die Fetisch-Gruppen der CSD-Parade.
Wir haben das geschafft. Wir sind komplett unterschiedlich. Wir können uns oft untereinander wirklich nicht leiden. Aber wir sind gemeinsam so stark, dass uns depressive Pubertisten mit Äxten, Pistolen und Sprengstoffrucksäcken nur erschrecken können. Nicht erschüttern. Die Bundeskanzlerin braucht meinen Rat nicht. Sie braucht mein und Ihr „wir“.
Vorschau:
In unserer Ausgabe am Dienstag, 9. August, schreibt an dieser Stelle unsere Autorin Katja Bauer.