Die Persönlichkeiten sterben aus, jammert Boris Becker – die Totalüberwachung produziert nur noch sterile Typen.

Stuttgart - Boris Becker hat Angst ums Tennis. Wenn Roger Federer und Rafael Nadal aufhören, sagt der Altmeister, dann Gutnacht. Früher hatten die Spieler noch das gewisse Etwas.

 

Heute haben sie das gewisse Nichts.

Becker wähnt sich umzingelt von sterilen Typen ohne Ecken und Kanten. Er vermisst die Persönlichkeiten. Sie verglühen unter dem Brennglas der modernen Rund-um-die-Uhr-Überwachung – sie werden von den sozialen und sonstigen Medien dazu erzogen, nichts falsch zu machen, auf dem Centre-Court und im richtigen Leben.

Als er selbst noch spielte, war das anders. Ungestraft haute er die Becker-Faust raus, und überhaupt konnte er sich nach Lust und Laune austoben und tun, wonach ihm gerade war – es gab in jenen 80ern noch keine Smartphonekameras, die ihn lückenlos im Auge hatten, und er konnte sich noch ungeniert in der Nase bohren, wenn nicht gar unbehelligt eine Bank überfallen.

In Großaufnahme ist die Rotznase zu sehen

Heute? Totalüberwachung. Die Welt ist rappelvoll mit gläsernen Menschen. Der Bundestag wird von Spionen gehackt, die Amis hören die Kanzlerin ab, die Sportler werden durchleuchtet bis unter die Gürtellinie, mit den modernsten Errungenschaften der Beschattungstechnologie, auf Schritt und Fehltritt – selbst die versteckteste Tätlichkeit bleibt nicht mehr ungefilmt. Es ist alles gekommen, wie es der Ex-Weltmeister Frank Mill vor fünfundzwanzig Jahren prophezeite: „Man kann auf dem Platz keine Blähung mehr lassen, ohne dass man im Fernsehen die Wolke sieht.“

In Großaufnahme und Superzeitlupe hat sich kürzlich Torjäger Eugen B. (Name von der Redaktion geändert) per Fingerdruck beidseitig die Fontänen aus der Nase geblasen, während Millionen Fernsehzuschauer daheim arglos bei Kaffee und Schwarzwälder Kirschtorte saßen – auf der Stelle war er als Rotzlöffel, Dreckspatz und moralischer Strolch abgestempelt und gesellschaftlich erledigt.

Wie soll ein Sportler noch zur Persönlichkeit reifen, fragt sich Becker, wenn überall ein fotografisches Auge lauert, das ganz scharf ist auf das Aufdecken seiner menschlichen Schwächen? Und es sind ja nicht nur die lupenreinen Bilder der Hochtechnologie, mit der Jäger aller Art die Berühmten zur Strecke bringen – angesichts der geringsten Gesichtsregung schildern uns Gebärdendolmetscher und Lippenleser brühwarm, was da gerade einer denkt oder sagt, und hinterhältige Richtmikrofone schnappen im Rahmen des Lauschangriffs auf einen fluchenden Trainer punktgenau auf, was sein Wortschatz an Beleidigungen zu bieten hat und was ihm anschließend den Ruf ruiniert.

Ein Hattrick im Bordell

Hinter jedem Busch lauert eine tückische Versuchung oder ein Fettnäpfchen – mindestens aber ein pfiffiger Wegelagerer mit Handykamera und direktem Draht zu Boulevard oder Twitter. Emir Spahic war Abwehrchef in Leverkusen, bis er einem Stadionordner eine Kopfnuss verpasste – die filmischen Dokumente kosteten den Spitzbuben Kopf und Kragen, denn sie standen schon ein paar Minuten später als Video im Internet. Alles kommt raus. Das war mal anders. Wem die Gnade der frühen Geburt hold war, der landete noch ungestreift in der Galerie der Helden. Selbst wenn Max Schmeling als Schwergewichtskönig in den Dreißigern in einem schwachen Moment ein Groupie vom „Bund Deutscher Mädchen“ beglückt hätte, wäre das verborgen geblieben. Keiner hätte das E-Mail-Konto des Boxers gehackt, und das Luder hätte seine SMS nicht zu Höchstpreisen an die Klatschspalte des „Völkischen Beobachters“ verscherbelt.

Heute? Fragen Sie Wayne Rooney. Der englische Wunderknabe war auf dem besten Weg, so populär wie Bobby Charlton zu werden, bis ihm ein Hattrick an der falschen Stelle gelang, drei Treffer in einer Nacht – im Puff. „Zu seinen Eroberungen“, zählte das Massenblatt „Sun“ auf, „gehörten eine 48-jährige Großmutter im Latexanzug, eine sechsfache Mutter im Cowboykostüm und ein Girl aus der Karibik in pinkfarbener Unterwäsche.“

Neckische Kissenschlachten mit Gespielinnen sind auch Tiger Woods und Franck Ribéry nicht gut bekommen, oder John Terry. Zunächst galt der als Englands Teamkapitän als Bilderbuchehemann, als „Vater des Jahres“ wurde er dekoriert, und seine Frau und die Zwillinge waren begeistert – bis herauskam, dass der Mustergatte gerne mal auf einen Sprung zum Unterwäschenmannequin Vanessa P. ausbüchste, die dummerweise die Freundin seines Mitspielers Wayne Bridge war. Der Gehörnte trat aus dem Nationalteam zurück, Terry war öffentlich unten durch.

Das Netz der modernen Dauerüberwachung

Das ist es, was Boris Becker meint: Nichts bleibt mehr unter der Decke. Bei ihm war es jene Russin in London, er hat das dortige Tête-à-Tête später blumig geschildert: „Sie verließ ihren Tisch Richtung Toilette. Ich hinterher. Fünf Minuten Small-Talk, und schon ging’s in der nächstmöglichen Ecke zur Sache.“ Die Folge war Anna. Für sie und seine übrigen Kinder schrieb Boris dann ein Buch, „damit sie meine Wahrheit schwarz auf weiß haben“ – worauf ihn Thomas Gottschalk in einer Sternstunde des TV-Talks fragte: „Hättest Du es ihnen nicht auch unter vier Augen sagen können?“

Früher schon. Aber heutzutage geht das nicht mehr, im engmaschigen Netz der modernen Dauerüberwachung verfängt sich ein Star schlimmstenfalls bis zur Selbstentblößung: „Bild“, SMS oder Twitter – in diesem Teufelskreis bleibt nichts geheim. Boris Becker weiß , wovon er spricht, er kennt alle Fallstricke und die Folgen. „Viele zeigen ihre wahren Seiten nicht“, ahnt er, „weil sie vorsichtig sind.“ Womöglich haben sie auch sein abschreckendes Beispiel als Klatschspalten-Boris und Twitter-Becker vor Augen und und enden lieber wie der Golfer Martin Kaymer, der einmal unter dem Gähnen des Publikums anlässlich seiner Auszeichnung bei der Laureus-Gala in Abu Dhabi verriet: „Ich bin eher der ruhige Typ, um nicht zu sagen langweilig.“

Still und leise locht Kaymer ein – und sogar Tiger Woods versteckt sich mittlerweile brav in Beckers langer Liste der sterilen Dressierten. Die Golfer also auch?