Wir Schwaben waren der Nabel der Welt. Jetzt droht die Stunde Null. Wir können nichts mehr, außer verlieren.

Stuttgart - Stuttgarts Sport steckt in der Krise. Gestern überflog meine Frau beim Frühstück die Schlagzeilen und fragte: „Steigen wir auch im Sackhüpfen ab?“

 

Alles spricht dafür.

Denn eine tödliche Epidemie geht um. Sie droht fast sämtliche Stützen des Stuttgarter Sports schlagartig auszulöschen – der VfB hat in Wolfsburg heute einen Priester für die letzte Ölung dabei, die zweite Mannschaft des VfB ist bereits abgestiegen, und wenn die Kickers Pech haben, kicken auch sie künftig in der vierten Liga, also sechs Fuß unter der Erde.

Friedhof sagt man dazu im Fußball, und angesichts dieses Massensterbens hat unser Leser Ulrich Schmitt dieser Tage in den StZ-Grabredenspalte das neue schwäbische Lebensgefühl verkündet: „Wir können alles, außer Fußball.“

Leider muss ich ihn korrigieren. Letzten Sonntag fragte mich der Leiter meiner örtlichen Sparkasse: „Wollen Sie nicht mal mit zum Handball?“ Seine Bank sponsert den TVB 1898 Stuttgart, der traf im Bundesligaderby auf Balingen, und um mich vom VfB-Abstiegselend gegen Mainz zu erholen, sagte ich begeistert ja. Kaum sitze ich, sagt er: „Heute geht’s gegen den Abstieg.“

Selbst der TVB Stuttgart spielt gegen den Abstieg

Vermutlich steigen in den nächsten Tagen auch die Eiskunstläufer, Standardtänzer und Reckturner ab. Jedenfalls muss man sich nicht wundern, dass der Stuttgarter Sport sogar schon die Remstäler Dorfhandballer vom TV Bittenfeld nach deren Aufstieg in die Bundesliga anflehen musste: „Können wir Euch leasen?“ Man hat sie eingemeindet, in „Stuttgart“ umbenannt, und die Stimmung am Sonntag in der Porsche-Arena war toll, Flammenwerfer, Feuerspucker, mehr als 6000 Fans – doch dann, letzte Minute, Tor für Balingen. Ausgleich. Genickschuss.

Uns Stuttgarter Sportsfreunden widerfährt momentan die schlimmste Demütigung, seit der Kickersplatz in Degerloch nach dem Ersten Weltkrieg auf behördliche Anweisung zum Kartoffelacker umgepflügt wurde – und die US-Besatzer anno 1945 das Neckarstadion in „Century Stadium“ umtauften und es für Baseball missbrauchten.

Aber dieser Massenabstieg jetzt ist grausamer, denn wir waren im Sport einmal der Nabel der Welt. Die Verstorbenen unter uns erzählen lachend die tollsten Geschichten, wie die über Max Schmeling und den 2. Juli 1939. Adolf-Hitler-Kampfbahn hieß das „Century Stadium“ da noch, vor 70 000 Zuschauern legte der Ex-Weltmeister im Schwergewicht seinen Gegner Adolf Heuser mit einer Rechten zum Kinn nach 71 Sekunden bewusstlos vor sich hin – und in seinen Memoiren schwört Schmeling, dass ein Stuttgarter Extrablatt, weil ein Handsetzer die Buchstaben durcheinanderbrachte, anderntags im ersten Andruck mit der Überschrift erschien: „Max Schmeling schlägt Adolf Hitler in der Adolf-Heuser-Kampfbahn k.o.“

Wie Rommel einst fast einen Papagei erschoss

Das war großes Kino, wie in den 1950ern die VfB-Triumphzüge, zweimal Meister, zweimal Pokalsieger. In den 60ern hat der VfB im Neckarstadion sogar Pele bekämpft, und die Kickers antworteten standesgemäß mit Real Madrid. Die Krönung waren dann vollends die 80er und 90er, trotz Manfred Rommel. Beim Tennis auf dem Weißenhof nahm der Turnierdirektor Nusch den OB einmal blindenhundmäßig an der Hand: „Das ist der Centre- Court.“

„So, so“, staunte Rommel.

„D’r Kloine vom Wüstenfuchs“ (er über sich) war ein bekennender Sportmuffel. Bei seinem Startschuss zum Sechstagerennen erschoss er aus Versehen fast einen als Maskottchen anwesenden Papagei, und für die Leichtathletik-WM 1993 bewarb er sich erfolgreich mit seinem geballten Hintergrundwissen über diese Sportart: „Wenn die Latte unten liegt, hat einer verloren.“

Rommel konnte tun, was er wollte, wir wurden zur sportlichsten Stadt der Welt, Daviscup, Reiten, Turnen, Sixdays, Fußball-Europacupendspiel, irgendwann schrieb die „Stuttgarter Zeitung“: „Der Normalbürger traut sich kaum noch, die Königstraße ohne Turnschuhe zu betreten.“ An den Kartenhäuschen kam es zu Dialogen wie diesem. Fan: „Koi Veranstaltung heut?“ Kassenfrau: „Ausnahmsweise Ruhetag.“ Fan: „Egal, oimal Haupttribüne.“

Schampuspullen und Sektkübel fliegen durch die Schleyerhalle

Fast reichte es sogar zu Olympia. Der neue OB Wolfgang Schuster („OB heißt Olympia-Bewerber“) flog anno 2000 nach Sydney, mietete das Sonnendeck der „MS Deutschland“ und bestach IOC-Chef Juan Antonio Samaranch mit Maultaschen, Kässpätzle und Trollinger, bis der „why not?“ zu ihm sagte, auf Deutsch: „Worom net?“ Die Frage war nur noch, ob wir das Segeln in den Bodensee auslagern – die Münchner hatten ja schon anno 1972 bewiesen, dass mit etwas gutem Willen auch die Kieler Förde noch zur deutschen Südsee gehört.

Fürs Boxen hätte man den Killesberg nehmen können, der sich schon in den 50ern als Hochburg des Faustkampfs bewährt hatte, unter Promoter Willi Knörzer. Er war „d’r Radio-Knörzer“, seine Rundfunkläden machten ihm zum König von Stuttgart, und für einen WM-Fight ließ er sogar die US-Legende Archie Moore einfliegen. Präsident der Kickers wurde er auch noch – aber am 25. Mai 1960, morgens um 9.30 Uhr, sprang er dann von der Autobahnbrücke zwischen Vaihingen und Eltingen. Es war auch der Tod des Boxens: Als Axel Schulz später in einem beschissenen WM-Kampf gegen den gedopten südafrikanischen Büffel Frans Botha verlor, flogen Schampuspullen und Sektkübel durch die Schleyerhalle.

Der Mob marschiert vor dem sportlichen Massengrab auf

„Von nun an ging’s bergab“ hat Hildegard Knef einst gesungen und mit ihrem Instinkt als gebürtige Schwäbin Recht behalten. In unseren Albträumen begegnen uns plötzlich nur noch Sargnägel und Totengräber, alle Helden sind tot oder in Rente – aber wenigstens die alten Hexer Magath und Daum hätte man fragen sollen, ob sie nicht an diesem Samstag in Wolfsburg den VfB freundlicherweise nochmal trainieren, Magath in der ersten Halbzeit und Daum in der zweiten.

Zu spät. Jetzt können wir nur noch warten, wer außer dem VfB sonst noch alles absteigt – und danach traurig zuschauen, wie auf unserem Stuttgarter Sportfriedhof der Mob mit geschwollenen Adern ins Massengrab brüllt: „Außer den Volleyballerinnen von Allianz könnt Ihr alle geh’n!“