Die Kanzlerin wird mit ihrer Flüchtlingspolitik zur Belastung für die Unionsparteien. Wolfgang Schäuble könnte der Übergangskanzler sein – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Kaum kann sie die Augen noch offen halten. Ihre Wangen, blass und schlaff, hängen erdwärts durch. Die Merkelfalten um Mund und Kinn haben sich noch tiefer eingegraben. So erschöpft, so vollkommen fertig wie jüngst vor der Presse in Brüssel hat man sie nicht einmal nach den allerlängsten Nachtsitzungen gesehen. Die Kanzlerin hat sich in eine Zwickmühle manövriert.

 

Das waren noch Zeiten im mittlerweile so fern erscheinenden Sommer, als es um Griechenland und sein Verbleiben in der EU ging. Damals hatte Berlin das Sagen. Dann jedoch, im Angesicht des Flüchtlingselends, hat Angela Merkel im Alleingang jenes Wir-schaffen-das in die Welt gesetzt, hat Schutzsuchende an der ungarischen Grenze mildherzig und unkontrolliert ins Land gelassen, hat sich auch dazu bekannt, dass wir aus Syrien niemanden zurückschicken und es keine Obergrenzen für das Asyl gebe. Zu alledem gab sie sich als Objekt der Begierde für Selfies mit den Anreisenden her. Und fast weinend tat sie kund, bei all jenen Deutschen, die nicht ganz so freundlich sein wollten wie sie, fühle sie sich nicht in ihrem Land. Das ging um die Welt. Nun kommen sie, an die Zehntausend an jedem Tag, die Mühseligen und Beladenen, sehr Bedürftige und weniger Bedürftige. Unsere Verwaltungen sind überfordert, die ehrenamtlichen Helfer schnappen nach Luft. Und kein anderes europäisches Land springt den Deutschen zur Seite. Fast möchte man meinen, dass sich unsere Nachbarn im Westen wie im Osten die Hände reiben. Endlich bekommen diese reichen, tüchtigen und mächtigen Deutschen, diese eingefleischten Sparkommissare eins aufs Dach. Sollen sie doch sehen, wie sie das Problem meistern. Ihre Regierung hat es sich selbst eingebrockt.

Warum hat sie sich in eine so verzweifelte Lage manövriert?

Und während man jenseits unserer Grenzen – gibt es sie überhaupt noch? – womöglich in Schadenfreude badet, dazu den Schutzsuchenden freudig die Wege Richtung Deutschland ebnet, baut sich auch im Innern, bei aller Hilfsbereitschaft, Widerstand auf. Ein brandgefährliches Gemisch aus Angst und Aggression kocht bis zu Mord und Brandstiftung auf. Mittendrin Angela Merkel, angeblich die mächtigste Frau der Welt, und nun ziemlich allein zu Haus.

Umfragen zufolge verliert sie ihren Spitzenplatz auf der Skala der beliebtesten Politiker, ihre Partei büßt Prozentpunkte ein. Aus der Jungen Union kommen Forderungen nach Begrenzung der Einwanderung. In der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages proben Abgeordnete den Aufstand. Der Druck an der Basis nimmt täglich zu, und manchem Volksvertreter schwant, er könnte, wenn das so weitergeht, nicht wieder gewählt werden. Die Radikalen lachen sich ins Fäustchen.

Deshalb versucht die Kanzlerin nun vorsichtig zurückzurudern. Plötzlich hält sie Transitzonen an den Grenzen für eine Möglichkeit, um den Zulauf etwas auszudünnen. Ein Gesetz, das die Rechte der Asylbewerber beschränkt, ist blitzschnell verabschiedet worden. Und dann der demütigende Gang nach Canossa, zum wahlkämpfenden Nichtdemokraten Erdogan am vergangenen Wochenende. Doch was hilft’s? Die Geister, die sie rief, die wird sie so nicht los. Nicht einmal ein Wort wie Joachim Gaucks Ruf aus der Wüste, unsere Möglichkeiten seien endlich, ist ihr zu entlocken.

Warum bringt sie das nicht über die Lippen? Wie konnte es so weit kommen? Was hat die ruhige und besonnene Kanzlerin dazu gebracht, sich in eine so verzweifelte Lage zu manövrieren? Vielleicht wollte sie sich wirklich als die Flüchtlingskanzlerin in die Geschichtsbücher einschreiben. Damit mag sie sogar Erfolg haben, wenn auch nicht in dem von ihr angestrebten Sinne. Möglicherweise ist sie aber auch Opfer eines weiblichen Gefühlsüberschwangs geworden, einer Abnutzungserscheinung nach Jahren des Helmut-Kohl-haften Regierens. Nicht eiserne Lady, sondern tatsächlich ganz Flüchtlingsmutti. Dabei hat sie kaum bedacht, dass sich etliche ihrer deutschen Kinder, die ärmeren vorweg, nun benachteiligt fühlen könnten.

Merkel ist der Realitätssinn abhandengekommen

Mit Sicherheit aber ist ihr in den zehn Jahren, die sie nun im Kanzleramt das Zepter schwingt, ein Stück Realitätssinn abhandengekommen. Nicht ohne Grund dürfen die Präsidenten der USA nur einmal zur Wiederwahl antreten und also längstens acht Jahre lang regieren. Wer ein so starkes Amt hat, der wird den lieben langen Tag gefragt, hofiert, angebetet und mit Informationen versorgt. Der braust im Luxusjet durch die Lüfte und trifft all die anderen, die auf der Welt Rang und Namen haben. Da kann sich schon das Gefühl der eigenen Wichtigkeit verselbstständigen. Nach zehn, zwölf Jahren, so bekannte mir Gerhard Schröder einmal, halte man sich gewiss für unersetzlich.

Bei Angela Merkel mag ein gewisses Beharrungsvermögen dazukommen. Das gehört allerdings zur Grundausstattung von Politikern. Aber wo sich die Wirklichkeit dramatisch verändert, ist auch das Talent zur deutlichen Kehrtwende gefragt. Es kann doch nicht wahr sein, dass die angeblich so mächtige Bundeskanzlerin öffentlich behauptet, der Zugang zu dem von ihr regierten Land sei nicht zu sichern. Steht sie denn an der Spitze eines Nachtwächterstaates? Von so hilflosem Personal will niemand regiert werden. Wenn weiterhin jeden Tag Zehntausende Schutz suchend zu uns kommen – und fast nur zu uns –, dann brennt hier die Luft trotz der kalten Jahreszeit. Und Wolfgang Schäuble, als allein möglichem Übergangskanzler, könnte endlich ein Lebenstraum in Erfüllung gehen.