Der Tübinger Oberbürgermeister steht in der Flüchtlingsfrage weit rechts von Angela Merkel – meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Hebt ihn auf den Schild, hängt ihm Orden um den Hals, lobt ihn, ihr Laudatoren, von welcher Zunft auch immer! Er hat’s verdient, zumindest in diesem Moment: Boris Palmer, Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen, Sohn des Remstal-Rebellen und nun selbst einer, der aufbegehrt. Ein unabhängiger Kopf. Das kommt selten vor.

 

In dem ganzen parteipolitischen Getöse um die Flüchtlingsfragen ragt er heraus – natürlich neben Schäuble und de Maizière, auch auf einer anderen Ebene – als einer, der zwar zu den Parteiprominenten zählt und doch ganz erdgebunden an der Sache entlangdiskutiert. Dabei tut er, was sich nur wenige zu tun getrauen – er pfeift auf seine Grünen und ihre Dogmen, auf ihre Asylseligkeit. Er schaut auf das, was ist, auf die greifbaren Probleme und er sagt, wie diese – wenn überhaupt – zu lösen sein könnten. Aber das will bei denen, die des wahren Glaubens sind, niemand hören oder lesen. Diese ideologisch hartleibigen Leute, die Hofreiters, die Göring-Eckardts, für die jeder Flüchtling schon a priori ein Neubürger ist, und die Junggrünen, die den kritischen Tübinger aus der Partei werfen wollen, haben ein Programm. Boris Palmer aber hat Verstand.

Der Praktiker Palmer ist für die Grünen ein Ketzer

So meldet er sich dieser Tage zum Thema aller Themen, dem übergroßen Strom der Flüchtlinge, zu Wort, denn davon versteht er etwas. Als Kommunalpolitiker ist er ein Betroffener, und zwar im praktischen, nicht in dem so häufig bemühten und von Krokodilstränen umflorten Gefühlssinne. Da steht dann als Gastkommentar – nicht etwa in der „taz“, sondern in der konservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, und zwar just dort, wo einst Angela Merkel zum Königsmord an Helmut Kohl aufrief, das eigentlich für jeden denkenden Menschen Selbstverständliche: Unser Grundgesetz gewähre unbegrenzten Schutz nur für politisch Verfolgte. Außerdem: Grenzen ließen sich durchaus kontrollieren. Dazu auch dies: Wir müssten wissen, wie viele Menschen zu uns kommen, welches Geschlecht und welche Qualifikation sie mitbrächten. Und schließlich die Frage, die auch noch zu beantworten sei: wie viel Geld wir ausgeben wollten und was die massenhafte Einwanderung für den Arbeitsmarkt bedeute.

Was der Praktiker Palmer da von sich gibt, ist für die Partei der Grünen, bei denen etliche den Eindruck erwecken, sie seien irgendwo sonst in der Welt, aber nicht von deutschen Bürgern gewählt, die pure Ketzerei. Es ist auch radikaler – und also für die Vertreter der reinen Lehre entschieden verdammenswerter – als die gelegentlichen Ausreißer des freundlichen Herrn Ministerpräsidenten auf dem Reitzenstein. Auch der traut sich ab und an etwas gegen die Generallinie seines Vereins. Zum Beispiel bei der Abstimmung im Bundesrat, wo er aus der Phalanx der mit den Grünen regierten Länder ausbrach. Es war sein Entgegenkommen, das anno 2014 einer Initiative der großen Koalition in der Frage der sicheren Herkunftsländer zur Gesetzesgeltung verhalf.

Jedermanns Liebling oder jedermanns Dackel

Erst das Land, also die Allgemeinheit, dann die Partei – zu dieser Maxime bekannte sich auch Erwin Teufel gern. Doch bei vielen Politikern weiß man immer schon im Voraus, wie sie auf dieses und jenes Ereignis reagieren, parteiblind wie sie sind. Von Markus Söder sind keine Überraschungen zu erwarten. Es war klar, dass er den Terror von Paris sofort für seine Zwecke nutzen würde. Nicht anders als Simone Peter, die Grünen-Vorsitzende, die auf der Stelle gegen Verschärfung der Asylgesetze und Grenzschließungen zu Felde zog.

Was solche Leute sagen, passt immer ins parteipolitische Spielfeld. Es entspricht den Erwartungen und ist folglich entsetzlich langweilig. Interessant wird es, wo Politiker diesen Rasen verlassen. Dann geht es um Sein oder Nichtsein. Helmut Schmidt, mit seinem Eintreten für den Nato-Doppelbeschluss, brachte seine Partei so sehr gegen sich auf, dass er am Ende sein Amt verlor. Seine Partei zog nicht mit. Auch Gerhard Schröder reizte die Sozialdemokratie mit der Agenda 2010 bis aufs Blut. Sie und ihre Anhängerschaft sahen sich ihrer politischen Identität beraubt. Am Ende obsiegte die Christdemokratin Angela Merkel, wenn auch knapp.

Da ergeht es dem Boris Palmer schon besser. Im Oktober 2014 ist er wiedergewählt worden und dies auf acht Jahre und direkt vom Volk. Ihm kann keiner, obwohl er in der Flüchtlingssache doch weit rechts steht von Angela Merkel in ihrem Elfenbeinturm. Mut muss er trotzdem aufbieten, denn die ideologisch unbeirrbaren Grünen können verdammt humorlos sein. Man denke nur an den Farbbeutel, der dem Joschka Fischer während eines Parteitags aufs Ohr klatschte und sein Trommelfell verletzte, weil er als Außenminister für militärische deutsche Hilfestellungen im Krieg auf dem Balkan eintrat, also den pazifistischen Comment der Grünen verletzte. Aber genau das ist von der Politik zu erwarten: das Unbequeme zu sagen, nicht nur unterschiedslose Freundlichkeit, sondern auch Konsequenz zu zeigen. Schmidt und Schröder haben verloren und am Ende doch gesiegt. Nicht weil sie gegen ihre Partei auftraten, sondern weil sie gegen ihre Partei das schmerzlich Notwendige und für die Allgemeinheit Rettende ins Auge fassten. Wer jedermanns Liebling sein will, sagte der Palmer-Kollege Rommel einmal, wird jedermanns Dackel. In Tübingen hat man’s vernommen.