Im Osten Deutschlands fühlt man sich durch die Fremden um das gute Leben betrogen – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Erst herrschte nichts als schwarze Nacht und vorweihnachtliche Stille auf dem Platz zwischen Hofkirche und Semperoper. Doch plötzlich tauchten Gestalten wie Lemuren aus den engen Gassen auf, am Anfang nur vereinzelt, sich schließlich zur Masse sammelnd. Fackeln flammten hoch. Sprechchöre skandierten „Deutschland, einig Vaterland“. Am Ende zogen die Dresdner Bürger zu Tausenden über die Elbe und am anderen Ufer entlang.

 

Genau 26 Jahre liegt jener denkwürdige Abend nun zurück, an dem die Stadt zu brodeln anfing. Am nächsten Morgen wurde Helmut Kohl erwartet, der hier mit einer Rede vor den kläglichen Resten der Frauenkirche seine Karriere als Staatsmann und Kanzler der Einheit begann. Gut hunderttausend waren gekommen, um ihm zuzuhören. Und alle Weihnachtswünsche galten keineswegs nur der Einheit, sondern vor allem der Freiheit, die damit verbunden sein würde. Unfasslich für jeden, der damals dabei war, dass ausgerechnet hier und in der Nachbarstadt Leipzig, die erst recht als Bollwerk der gewaltlosen Revolution gegen die DDR-Diktatur galt, jetzt, ein Vierteljahrhundert später, die Menschen mit geradezu entgegengesetzten Forderungen auf die Straße gehen. Radikale von rechts wie von links und extrem gewaltbereit.

Was ist in den Köpfen vieler Bürger im Osten passiert?

Wie kann das sein? Was ist in den Köpfen vieler Bürger im Osten passiert? Und warum fegen über Westdeutschlands Gassen keine vergleichbaren Proteststürme gegen die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin hinweg? Hie Willkommenslust, dort Fremdenfrust? So klar ist das natürlich nicht zu trennen. Auch in den westdeutschen Ortschaften gibt es Proteste und Anschläge, und in vielen ostdeutschen Gemeinden formiert sich Widerstand gegen die Fremdenfeindlichkeit. Doch es sind Tendenzen sichtbar. Obwohl die Ostdeutschen nur 17 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, geschehen unter ihnen die Hälfte aller rassistischen Gewalttaten. Und das hat Gründe.

Natürlich sind nicht all jene Deutschen, die derzeit Flüchtlingen helfen und anpacken, plötzlich zu guten Menschen mutiert. Aber sicherlich wollen sie dem beschädigten Ruf Deutschlands nach dem Holocaust nun die gelebte Nächstenliebe entgegensetzen. Es entspricht ja auch dem Zeitgeist, dass der Mensch offen sei. Und so begeistert, wie die Väter und Großväter einst den Mordaufrufen der Nazis folgten und für ihren Vernichtungswillen die gerade mal 500 000 völlig integrierten deutschen Juden ins Feld führten, so begeistert gehört es sich 70 Jahre später, Hunderttausenden von geflüchteten Muslimen ein freundliches Gesicht zu zeigen.

Mitzuhelfen verschafft gute Gefühle

Aber das ist längst nicht alles. Unseren lieben westdeutschen Landsleuten – zumindest den meisten unter ihnen – geht es nicht nur vergleichsweise sehr gut, sie haben auch viel Zeit. Die Arbeitstage sind kurz, die Menschen gehen früh in Rente, die Familien sind klein und nicht mehr mit 6 und 7 Kindern gesegnet. In jedem Haushalt verrichten Maschinen die Arbeit. Da kann man sich doch gut noch woanders nützlich machen. Erst recht, wenn es sich um etwas Großes handelt. Und das ist die Flüchtlingskrise ohne Zweifel. Hier mitzuhelfen ist spannend, ist aufregend, ist erlebnisreich, füllt aus. Es verschafft einem gute Gefühle. Man tut etwas Sinnvolles, man hilft Menschen in Not, man spürt sich wieder, man ist mitten im Leben, und man gehört zu einer großen Gemeinschaft, deren Mitglieder ähnlich denken und handeln. Wunderbar!

Insofern hat Angela Merkel sehr vielen Deutschen, vor allem den Westdeutschen, einen großen Gefallen getan. Zumindest fürs Erste. Denn keiner weiß, wie das alles ausgeht. Und wohin werden vorauseilende Unterwerfungen wie in jener Münchner Grundschule führen, wo sich die Kinder, um Muslime nicht zu provozieren, an Weihnachten statt als Maria und Josef als Orangen oder Bananen verkleiden durften? Das mag sogar den christlichsten Willkommenskulturisten in die Nase steigen.

Man hat mit sich zu tun – und will sich selbst genießen

Für Angela Merkels Landsleute in der ehemaligen „Zone“ sieht die Sache freilich noch einmal ganz anders aus. Zwar geht es auch ihnen inzwischen gut, obwohl sie im Durchschnitt immer noch ein Viertel weniger verdienen als die Westdeutschen. Auch sie verfügen über viel Zeit, und in ihren Wohnungen stehen Trockner, Wasch- und Spülmaschinen. Am Kinderreichtum mangelt es ebenfalls. Doch sie haben leid-und entbehrungsreiche 40 Jahre hinter sich, sie glaubten sich endlich auf der Sonnenseite und fühlen sich nun ums gute Leben betrogen. Endlich schienen die Konten einigermaßen ausgeglichen. Und nun das: Fremde, an die sie nicht gewöhnt sind, Fremde in Massen, die einem die ganze Wohligkeit, die man nach all der Qual errungen zu haben glaubte, beeinträchtigen, womöglich zerstören. Fremde, die Jobs wollen. Dabei hat man doch selbst mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Schauerlich.

Hinzu kommt der Mangel an demokratischer Erfahrung und Bildung. So wird im verwöhnten Westen eher als Bereicherung und Belebung empfunden, was man im Osten als drohende Beraubung wahrnimmt. Das gilt nicht nur für die neuen Bundesländer. Es erklärt auch die osteuropäische Weigerung, die deutsche Willkommenspolitik mitzutragen. Sie alle haben mit sich zu tun und wollen jetzt auch sich selbst genießen. Angela Merkel hätte es wissen können. Doch sie ist längst viel zu weit weg von alledem.