Zur Zeit ist es kein Vergnügen, ein Mann zu sein. Eine Berührung, ein dummes Wort, schon steht einer im Aus – egal wie gering das Vergehen. Unsere Kolumnistin ist in diesen Männerbeschimpfungstagen froh, eine Frau zu sein.

Stuttgart - Mein Gott, was bin ich in diesen Männerbeschimpfungstagen froh, kein Mann zu sein. Dabei wünschte ich mir doch mein ganzes Leben lang für den Fall meiner Wiedergeburt, ich möge bitte nur als Mann auf dieser Welt erscheinen. Männer haben es nun mal besser im Leben. Männer sind mächtiger. Männer leiden weniger unter körperlichen Beeinträchtigungen – zumindest solange sie jung sind. Da muss man sich einfach wegträumen aus dem schwachen Geschlecht. Fort damit und hinein ins starke Männerdasein: jagen, fischen, Auto rasen, Frauen verführen, Schlachten gewinnen, Unternehmen regieren, Macht ausüben, die Welt beherrschen. Ach, es hat nicht sollen sein.

 

Aber jetzt? In dieser Zeit, da wir nun dank Harvey Weinstein und anderer Übeltäter sehr genau wissen, wes Geistes und wes Grapschens die Männer sind, da bin ich zu meiner eigenen Überraschung recht froh, als Frau auf Erden zu wandeln. Da ist man weniger Versuchungen ausgesetzt. Nein, ein Vergewaltiger wie jener Hollywoodmogul wäre ich gewiss nie gewesen. Aber vielleicht hätte ich doch einmal meinen Arm um eine Schöne gelegt, mit meinem Knie aus Versehen ein weibliches solches touchiert, hätte eine Spur zu tief in ein blitzeblaues Mädchenauge geschaut und der Besitzerin dieses Auges ein Kompliment gemacht. Vielleicht hätte ich sogar eine andere holde Maid gefragt, ob sie zur Abwechslung mal die Meine sein wolle. Oh wie sündhaft, wie maßlos, wie verdammenswert müsste ich mir jetzt im Nachhinein vorkommen. Asche auf mein Haupt, Knick in der Seele.

Die Tugendwächter würden über mich herfallen

Und erst die Außenwirkung! Wenn etwa nach dreißig Komma drei Jahren einer der von mir allzu deutlich angebeteten Damen wieder einfiele, wie ich mich zu nähern versucht hatte und wenn sie dies via Instagram oder sonst was in die Öffentlichkeit hinausposaunte: Nicht auszudenken, was dann geschähe und wie die vereinigten Tugendwächter der westlichen Welt über mich herfallen würden. Ich wäre ein Unhold, wäre Teil jenes Kartells männlicher Macht, das Frauen ausbeutet, unterdrückt, schlecht bezahlt, demütigt, kränkt, verletzt, in den Staub tritt, nicht ausreichend achtet und respektiert. Ich wäre out, ginge meiner Arbeit verlustig, geriete unter Acht und Bann, und keine Hand würde sich für mich rühren. Niemand würde mich retten. Ich wäre vernichtet wie jener 84-jährige Professor aus Berkeley, der seiner Assistentin auf den Po geklatscht haben soll, was nur behauptet, aber nicht bewiesen worden ist. Ich wäre entehrt wie der arme Rainer Brüderle, ein wahrhaft tüchtiger Politiker, von denen wir ja nicht so viele haben, der im Zustand der alkoholischen Besäuselung ein bisschen blöd dahergeredet, aber doch niemanden wirklich verletzt hat. Gleichwohl sehen wir ihn seither zum Nichts degradiert. Wo immer von ihm die Rede ist, fällt jedem sofort sein Wort vom Dirndl-Busen ein. Ruhm und Ansehen, alles vorbei. Dahin, dahin.

So ergeht es den großen wie den kleinen Sündern. Oder auch denen, die gar keine Sünder sind, wie wahrscheinlich der 93-jährige Ex-Präsident George H. W. Bush, dessen Hand – mit Absicht oder aus Versehen? – den Rücken einer Dame gestreift haben soll. Womöglich weiß er gar nicht, wie ihm geschieht. Trotzdem steht er nun als eines unter den vielen Männerschweinen am Pranger. Wer möchte nach alledem noch zum männlichen Geschlecht gehören? Endlich darf ich es genießen, eine Frau zu sein. Aber natürlich könnte ich mich einreihen unter denen, die ihr Me-too wie eine Fahne vor sich hertragen.

Jetzt sind wir die Inquisition

Auch ich habe eine exemplarische Geschichte zu erzählen, die Geschichte von jenem Rundfunkredakteur, der mich als junge Journalistin mit interessanten Aufträgen versah und dessen Hand eine pathologische Leidenschaft für meinen nächstgreifbaren Oberschenkel entwickelte. Bei jeder Besprechung musste ich diese Hand wieder und wieder von meinem Bein abpflücken und auf der Stuhllehne parken. Doch gleich war sie wieder da, die Unziemliche, und ein anhaltendes Hin und Her, ein Schenkel-Stuhllehne-Stuhllehne-Schenkel begann. Derweil redeten wir, als ob nichts geschehe und nichts geschehen sei über dies und das und die zu schreibenden Features. Noch gab es keine Frauenbeauftragte, bei der ich mich hätte beschweren können. Aber würde dieser Mensch – er ist schon lange tot – sich heute noch getrauen, was ihm damals, zu jener Männerzeit, so selbstverständlich gelang? Ich glaube kaum.

Denn jetzt ist die Zeit der Frauen angebrochen. Holdrio. Jetzt erhebt unsereins den Zeigefinger, jetzt heißt es: der und der und der! Mancher war es, mancher war es nur ein bisschen oder auch gar nicht. Und meistens ist es gefühlte tausend Jahre her. Spielt keine Rolle. Wir sind die Inquisition. Unser „Schuldig, schuldig, schuldig“ erschüttert die westliche Welt. Und seht, wie die Starken plötzlich schwach sind, wie sie sich wenden und winden, wie sie um Vergebung bitten, wie sie beweinen und bedauern, wie sie sich geißeln und sogar ohne Zwang ihren Job aufgeben. Wir aber, die ewig Unterdrückten, stehen am rettenden Ufer, schauen zu, und wenn dann der Kopf fällt, sagen wir mit der Seeräuber-Jenny aus Berthold Brechts „Dreigroschenoper“ nur: hoppla.