Das Internet hat sich als Protestplattform etabliert. Für die Demokratie ist es aber wichtig, wenn nicht nur online, sondern auch reell demonstriert wird, wie am Wochenende für und gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung in Stuttgart.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Es gibt ein neues Gesellschaftsspiel, das mit Parolen zu tun hat, an denen man sich ganz ungeniert erfreuen kann. Es ist ja keiner da, der einen dabei beobachtet. Eigentlich großartig: Frühmorgens, am hellen Mittag, in der Dämmerung oder mitten in der Nacht lässt man die Kinderstube hinter sich und schreitet voran in den virtuellen Raum, der scheinbar alles erlaubt. Dort werden sogenannte Petitionen verfasst, die den Stammtisch von einst als Kindergeburtstag erscheinen lassen. Mal geht’s gegen einen Fernsehmoderator, der aus dem Sender entfernt werden soll, dann wird die angeblich von der Landesregierung geplante Umerziehung von Schülern zu Lesben und Schwulen gegeißelt – und wir, die noch in einer ganz realen Stadt leben, stehen staunend da und fragen uns, warum Hunderttausende Menschen nichts Besseres zu tun haben, als sich online mit solchen Parolen zu befassen.

 

Jan Fleischhauers Fazit: Nie war Protest so einfach

Der „Spiegel“-Kolumnist Jan Fleischhauer erklärt das Phänomen damit, dass der Netzprotest alle Elemente der Widerstandskultur zusammenführe und diese um neue Formen der Mobilisierung ergänze. Die Online-Petition sei nicht nur schneller als der klassische Demonstrationsaufruf, sie verfüge „zudem über den unbestreitbaren Vorteil, dass niemand mehr bei Wind und Wetter auf die Straße muss“. Fleischhauers Fazit: „Nie war Protest so einfach.“

Und nie so feige.

Denn bei aller Wertschätzung des Internets: die Möglichkeit, als anonymer Heckenschütze ungestraft auf alles und jeden zu zielen, hat verheerende Wirkung. Menschen werden gemobbt, fühlen sich bedroht und können sich nicht wehren, weil sie nicht wissen, gegen wen sie sich wehren sollen. Internetseiten wie „Politically Incorrect“ tun so, als gäben sie Andersdenkenden eine Plattform und beförderten eine bunte Debattenkultur. Doch das Gegenteil ist der Fall. Solche Seiten pervertieren den Toleranzbegriff geradezu, weil sie jedem Anonymus freien Lauf bei Beleidigungen aller Art lassen. So entsteht weder eine sachliche Diskussion noch ein politischer Streit, sondern nur ein Knäuel von Unverschämtheiten.

Aus der virtuellen in die wirkliche Welt

Auch wenn man eine ganz andere Meinung hat, ist es deswegen unbedingt zu begrüßen, dass an diesem Samstag wenigstens einige Anhänger der Online-Petition gegen einen „Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ aus der virtuellen Welt hinaustreten in die wirkliche. Um 14 Uhr treffen sie sich am Stuttgarter Schlossplatz, um für ihre Überzeugung zu werben. Zur gleichen Zeit bildet sich am Schillerplatz die Gegendemonstration, die unter anderem von den Machern des Christopher Street Days organisiert wird. Ganz analoge Formen von Meinungsäußerungen sind das, unbequem zwar für alle, die an einem Samstagnachmittag in der City eigentlich am liebsten ihre Ruhe hätten, anstrengend, vielleicht sogar empörend für jene, die das Gegenteil vertreten, aber so offen, wie es in einem öffentlichen Diskurs sein muss: Man sieht, wer wofür steht. Man kann mit den Leuten sprechen und streiten. Das ist Demokratie im Sinne Manfred Rommels, der sagte: „Vertrauen kommt von trauen. Und da trauen sich manche schon allerhand. Ich möchte im Übrigen in keinem Land mehr leben, in dem sich die Menschen nicht trauen zu demonstrieren, zu protestieren, auch etwas zu randalieren. Sie trauen sich, weil sie darauf vertrauen, dass der Staat sich an die Gesetze hält.“

Vor diesem Hintergrund darf Stuttgart durchaus stolz darauf sein, die gefühlte Hauptstadt der Protestrepublik Deutschland zu sein. Hier muss niemand im Verborgenen agieren. Und schon gar nicht anonym.