Wir sind korrekt, nicht korrupt, sagen der Fifa-Chef Sepp Blatter und sein möglicher Nachfolger Michel Platini - und ihr reines Gewissen wird gestützt von einem guten Beispiel. Oskar Beck beschreibt es in seiner Kolumne.

Stuttgart – Jeder sensible Mensch kennt die abscheulichen Momente, in denen er sich am liebsten geschwind den Magen über den Hals entleeren würde – und für viele wird das unappetitliche Gefühl auch dadurch nicht besser, dass der Präsident des Weltfußballs ständig behauptet: Ich habe keinen Dreck am Stecken. So einen mulmigen Moment haben wir jetzt wieder. Sepp Blatter beugt kein Knie, sondern stellt sich aufrecht hin und sagt: „Ich bleibe, denn ich habe nichts Illegales oder Unzulässiges gemacht.“

 

Was zwingt Blatter zu diesem mutigen Bekenntnis? Es gibt dafür nur drei Erklärungen: Entweder es ist so, oder er glaubt es – oder es ist einfach der angeborene Schutzreflex eines Machtmenschen, der mit dem Rücken zur Wand in der größten Schweizer Zeitung blättert und entsetzt feststellen muss, dass sogar seine Landsleute vom „Blick“ ihm plötzlich balkenhoch die Schlagzeile auf den hohen Scheitel hauen: „Jetzt wird’s ganz bitter: Lebensabend hinter Gittern?“Dieser Gedanke spaltet die Fans.

Der König des Fußballs in Handschellen

Die einen sind hellauf entzückt, die anderen fassungslos: Der große Fifa-Chef, fast 80jährig, ein Knacki? Der König des Fußballs in Handschellen und Fußfesseln auf dem Weg zum Kadi? Wer so ein Szenario früher für möglich gehalten hätte, wäre als Spinner sofort in eine Zwangsjacke gesteckt und entmündigt worden – noch härter wäre höchstens die unsinnige Behauptung bestraft worden, dass Griechenland eines Tages Europameister wird, ein Pole in neun Minuten fünf Tore schießt oder Uli Hoeneß im Gefängnis endet. Jetzt auch noch Blatter?

Zehn Jahre kann er kriegen, schätzen mutige Rechtsgelehrte. Fünf Jahre ist demnach allein seine innige Freundschaft zum alten Wegbegleiter Jack Warner wert, dem Blatter die TV-Rechte an diversen WM-Turnieren so gut wie geschenkt hat, worauf der Kumpel aus der Karibik beim Weiterverkauf steinreich wurde. Und weitere fünf Jahre gesiebte Luft könnte der Schweizer angeblich wegen der Millionen atmen, die er an den Uefa-Chef Michel Platini überwiesen ließ, als Dank für dessen Verdienste als „technischer Berater“ – oder weil der Franzose, wie böse Zungen unken, bei der Präsidentenwahl 2011 nicht gegen ihn antrat?

Viele hatten bei Blatter schon lange kein gutes Gefühl, aber seit ein paar Tagen wird es besser. Dass es für den „Paten von Zürich“, wie ihn die halbe Welt längst ungeniert nennt, über Nacht eng und einsam wird, tut etlichen Leuten gut. Geschätzte neun von zehn Fans träumen davon, Blatter in Dunkelhaft bei Wasser und Brot zu sehen, mit täglich zehn Peitschenhieben und anschließender Sicherheitsverwahrung – und diese klammheimliche Freude deckt sich durchaus mit einer anderen Umfrage. Der „Kicker“ wollte wissen: Soll Michel Platini jetzt noch für den Fifa-Vorsitz kandidieren? „Nein“, sagten ungefähr 87 Prozent. Auch der Franzose ist unten durch.

Nur noch 13 Prozent sind für Platini

Monsieur wird nicht mehr viel erfreulicher wahrgenommen als Blatter, und das einzige, was ihn für viele noch erträglich macht, ist die Unschuldsvermutung. 13 Prozent sind noch für ihn, weil sie entweder die Meinung vertreten, dass Platini als technischer Blatter-Berater sein Geld wert war oder sich sagen: Wer sich in dieser versauten Welt nicht bestechen lässt, ist selbst schuld. Ist nicht schon Jesus für dreißig Silberlinge von Judas verraten worden?

Wie ticken die mächtigen Fußballbosse? Was meint Blatter, wenn er behauptet, dass er nichts Illegales und Unzulässiges getan hat?

Guten Gewissens und in dieser Entschlossenheit können das nur wenige von sich sagen, aber es gibt sie. Der Staatspräsident einer mittelamerikanischen Bananenrepublik bekam einmal Besuch aus den USA, und wenn die Geschichte nicht erstunken und erlogen ist, wollte ihm der geschäftstüchtige Ami einen Cadillac schenken. „Kommt nicht in Frage“, wehrte sich empört der Diktator, „ich kaufe den Wagen.“ Man einigte sich auf fünf Pesos. Als ihm der US-Gast auf seinen Zehn-Pesos-Schein herausgeben wollte, winkte der Präsident ab: „Lassen Sie, ich nehme auch noch einen für meinen Bruder.“ Von wegen korrupt, geht es korrekter?

Blatter und Platini legen jedenfalls beide Hände für sich ins Feuer und heben die Zunge zum Schwur – wenn man den Franzosen richtig versteht, hat er als Sepps Ratgeber die Ärmel hochgekrempelt und sich die Millionen im Schweiße seines Angesichts redlich verdient. Auch Blatter versteht angesichts der grässlichen Vorwürfe die Welt nicht mehr, schon seit einer Ewigkeit schwört er: „Ich bin nicht bestechlich, da können Sie mir beide Hände abhacken.“ Lasst sie ihm dran, flehen jetzt die Blatter-Feinde – sonst halten im Bedarfsfall die Handschellen nicht. Für immer mehr Fans gilt statt der Unschuldsvermutung der gesunde Menschenverstand. Zwei und zwei ist vier, sagen sie sich und klatschen dem früheren Fifa-Mann Guido Tognoni tosend Applaus, wenn der im ZDF-Sportstudio über Blatter und Co. sagt: „Diese Leute haben kein Schuldbewusstsein.“ Die Menschen sind angewidert. Sie haben die Faxen dicke von dieser käuflichen Welt des Fußballs, in der Kuverts unter den Hotelzimmertüren durchgeschoben werden und sich die Funktionäre Luxusuhren zwischen die Pobacken schieben lassen. Es mag ja sein, sagt sich der Fan, dass es auch noch anständige Menschen gibt – aber ausgerechnet in der Fifa, und ausgerechnet Blatter?

Viele denken: Lasst Hoeneß frei, macht Platz für Blatter

Immer mehr Deutsche fragen sich neuerdings auch, ob das Bundesverdienstkreuz am dicken Hals dieses Schweizers auf Dauer gut baumelt. Günter Pfitzmann, die unvergessene Kratzbürste im Kabarett der Berliner „Stachelschweine“, hat uns einst die Frage, warum er diesen Vaterlandsorden abgelehnt hat, mit der denkwürdigen Gegenfrage beantwortet: „Wussten Sie, dass jeder Fünfte von denen, die das Bundesverdienstkreuz gekriegt haben, im Gefängnis sitzt oder schon mal saß?“ Auf jeden Fall würde mehr als jeder Fünfte mit b) antworten, wenn man unter den Schalker Fans heute oder morgen eine Umfrage veranstalten würde zum Thema: Wer ist sympathischer, a) Sepp Blatter oder b) Willi Kraus? Bomber Kraus war als Torjäger eine kurze Schalker Legende, in 36 Bundesligaspielen schoss er 16 Tore, und es wären ganz sicher mehr geworden, wenn er an seinen freien Tagen nicht Banken ausgeraubt, Läden überfallen, mit Rauschgift gehandelt und sein halbes Leben im Knast verbracht hätte.

Nein, Blatter ist nicht mehr beliebt. Stattdessen sehnen sich immer mehr Menschen jene Situation herbei, die der britische Fifa-Enthüller Andrew Jennings so beschrieben hat: „An der Straße hält plötzlich ein Polizeiauto, und der Sheriff sagt: Steigen Sie bitte ein, Herr Blatter.“ Das ist der Traum vieler, fragen Sie nach in Ihrem Freundeskreis – gefühlte neun von zehn würden sagen: Lasst Hoeneß frei, macht Platz für Blatter.

Doch der Knast kommt für den Schweizer nicht in Betracht, wie könnte er von dort aus dem Fußball dienen? Ohne mich geht es nicht, spürt Blatter, er sieht sich als Bewahrer, als Retter und Visionär - und jäh fällt einem da Altkanzler Helmut Schmidt ein, der als „Schmidt-Schnauze“ einst meinte: „Wer Visionen hat, muss zum Arzt.“

Muss Sepp Blatter zum Doktor?