Es ist zu einfach, nur die Kirche anzuklagen, meint Stefan Geiger, politischer Korrespondent der Stuttgarter Zeitung, zu den Missbrauchsfällen.

Stuttgart - In den fünfziger und sechziger, auch bis in die achtziger Jahre hinein wurden junge Menschen in Internaten Opfer von Gewalt oder aber von sexuellem Missbrauch. Allzu lange wurde das vertuscht. Es ist kein Zufall, dass die Mauer des Schweigens gerade jetzt fällt. Die Täter sind inzwischen krank, alt oder tot. Sie haben ihre - realen oder auch nur informellen - Machtpositionen verloren. Das Phänomen ist nicht neu. Auch das Entsetzen über die weit schlimmeren Verbrechen all der kleinen Nazis brach sich in Deutschland öffentlich erst Bahn, als die Täter die Debatte nicht mehr beeinflussen, keinen Schutzschirm mehr um sich aufbauen konnten. Erst von diesem Augenblick an wurden die gesellschaftliche Verdrängung des Unrechts, das Vertuschen und die Verharmlosung abgelöst von einhelliger Verurteilung und Empörung.

Wieder einmal schaut diese Gesellschaft entsetzt in ihre eigene Vergangenheit. Sie hätte gewarnt sein können. Unkontrollierte und ungezügelte Macht einerseits und die Gewalt als die extremste Form des Machtmissbrauchs sind zwei Seiten derselben Medaille. Das war schon immer so, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Institutionen, die sich von der restlichen Gesellschaft abkapseln und zu geschlossenen Systemen werden, sind anfällig für interne Hierarchien von Macht und Ohnmacht - seien sie nun autoritär vorgegeben oder informeller Art.

Geschlossene Systeme, in denen Menschen nicht immer freiwillig eng beieinander leben, aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind, verleiten zu Machtmissbrauch. Internate sind solche geschlossenen Anstalten. Spätestens die Vorfälle in der Odenwaldschule, die einst als Reformschule begonnen hatte, belegen: die Strukturen fördern den Missbrauch, nicht Ideologien. Schon deshalb ist es falsch, das Problem allein auf die katholische Kirche schieben zu wollen. Es entwickeln sich scheinbar unantastbare Halbgötter auch im antiautoritären Milieu des Odenwalds.

Täter fühlen sich lange sicher


Die junge Bundesrepublik war wirtschaftlich erfolgreich, aber auch eine Gesellschaft mit autoritären Strukturen, voll von latenter Gewalt. Es waren gerade auch die jungen Menschen, die nicht nur in katholischen Bildungseinrichtungen Opfer von Aggressionen wurden. Der Bundesgerichtshof und nicht ein durchgeknallter Pädagoge hat es 1953 als vom Züchtigungsrecht der Eltern gedeckt empfunden, einer ungebärdigen Tochter die Haare zu scheren und sie an einen Stuhl festzubinden. Diese höchstrichterliche Billigung von Gewalt geschah öffentlich, nicht hinter Klostermauern. Keiner hat sich darüber erregt. Auch Familien sind geschlossene Systeme. Die meisten Fälle von Gewalt gegen Jugendliche und von sexuellem Missbrauch geschahen damals und geschehen heute noch in den Familien. Auch das gehört zur Diskussion.

Seit Jahren bekannt ist, dass die Fürsorgeerziehung in Deutschland bis in die siebziger Jahre hinein in Abstufungen ein System der Gewalt bis hin zum - selten vordergründig sexuell motivierten - Sadismus war. Es interessiert sich bis jetzt außer einigen Fachleuten kaum einer dafür. Die meisten Fürsorgezöglinge waren in der Obhut des Staates, der übrigens rein theoretisch auch die Aufsicht über die Privatschulen hat.

Verblüffend ist nicht, dass es solche Täter gegeben hat. Keine Gesellschaft ist frei von Kriminalität, auch nicht von sexuell motivierten Taten. Diese sind seit Jahren rückläufig. Die Aufmerksamkeit dafür ist gestiegen. Verhängnisvoll ist, dass die Täter nicht gestoppt worden sind, dass sie allzu lange auf das Schweigen ihrer Umwelt vertrauen konnten. Vertuscht haben nicht nur Kollegen, was schlimm genug ist, weggesehen haben müssen auch viele andere. In den Internaten saßen Kinder einer machtbewussten Elite, von denen sich später selbst viele als Teil der Elite verstanden und über Macht verfügt haben. Es ist schwer verständlich, dass das Kartell des Schweigens auch hier jahrzehntelang funktioniert hat.