Die Affäre um den FDP-Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle zeigt, dass der Sexismus in unserer Gesellschaft noch lange nicht überwunden ist, meint die StZ-Redakteurin Katja Bauer. Deshalb muss eine Diskusison über das männliche Rollenbild folgen.

Berlin - Eine Journalistin berichtet von der angeblichen sexuellen Belästigung durch einen Spitzenpolitiker – und das Land hat einen Aufreger. Es kann einen allerdings atemlos machen, worin dieser zu bestehen scheint: Viele, vor allem Männer in der Politik, reden jetzt über zwei Dinge – über die Frage, warum das Magazin „Stern“ die Geschichte erst mit einem Jahr Verzögerung veröffentlichte, und über die Glaubwürdigkeit der Journalistin.

 

Man kann darüber streiten, ob das Verhalten des „Sterns“ redlich und journalistisch sauber ist. Nachrichten berichtet man, wenn sie passieren. Die Geschichte über „den spitzen Kandidaten“ Rainer Brüderle ist bewusst auf Tabubruch und Auflage gebürstet. Das schwächt die Bestandsaufnahme der Journalistin, die man hätte besser stützen können: durch Recherchen bei anderen Frauen im Politikbetrieb und in anderen Jobs. Andererseits ist Brüderles Verfehlung auch deshalb jetzt zur Nachricht geworden, weil der Politiker sich just in dieser Woche als Spitzenkandidat der FDP für vier Jahre in Stellung gebracht hat und die Partei signalisiert, wie ihre Vorstellung vom Politiker der Zukunft aussieht.

Sexismus ist immer noch salonfähig

Erstaunt und bestürzt stellt man aber fest: die wenigsten reden jetzt darüber, ob ein Politiker sich eigentlich so verhalten darf, wie es Rainer Brüderle vorgeworfen wird. Sexismus ist immer noch derart salonfähig, dass die Frau, die ihn öffentlich macht, im Zentrum der Kritik steht. Es stimmt, die Reporterin hat schwere Vorwürfe erhoben. Aber es gibt keinen Grund, ihr – anders als anderen Journalisten, die erlebte Szenen schildern – nicht zu glauben. Was Laura Himmelreich schildert, ist glaubwürdig. Denn es ist leider Alltag. Es reicht eine kleine Umfrage in egal welchem Bekanntenkreis unter den anwesenden Frauen: Die Geschichte spiegelt eine zentrale Erfahrung, die Hunderttausende Frauen im Beruf immer noch machen, egal ob Vorstandssekretärin, Bankangestellte, Ärztin oder Journalistin. Oft handelt es sich nicht um solch onkelhafte Bierzeltdimpfeleien wie jetzt geschildert, sondern um feinere Grenzüberschreitungen.

Jede von uns kann ohne langes Nachdenken solche Geschichten erzählen, und wir erzählen sie. Aber meistens nicht laut, nur einander. Zum unserem Alltag gehört das Runterschlucken und Weglächeln. Wer will schon einen Konflikt, womöglich mit einem Vorgesetzten? Welche Journalistin will sich zurückziehen, wenn die männliche Konkurrenz an der Bar mit den Politikern einen hebt? Wer möchte sich in der eigenen Firma, die schon lange über ein aufgeklärtes Leitbild samt Frauenförderung verfügt, profilieren als empfindliche Neo-Emanze, die keinen Scherz versteht?

Frauen haben viel zu verlieren

Eine Frau hat, erst recht in einer Arbeitswelt, in der die Macht immer noch ungleich unter den Geschlechtern verteilt ist, in der also Männer über ihre Zukunft befinden, viel zu verlieren, wenn sie über sexuelle Belästigung spricht. Es gibt aber Frauen, die den Mund aufmachen, und sie können es leichter tun, wenn es auch weibliche Vorgesetzte gibt, die ihnen zuhören. Und es gibt – immer öfter – auch in der Arbeitswelt Männer, die es schaffen, auszubrechen aus der tradierten Erwartungshaltung und nicht den tollen Hecht spielen müssen.

Und darin läge doch nun eigentlich die Chance der ganzen Geschichte, auch für Politiker, die in einem Wahljahr stehen: Die journalistisch etwas fragwürdige Geschichte trotz allem als Anlass zu nehmen für eine Debatte – über den Irrtum, wonach wir Sexismus überwunden hätten. Darüber, wie man es Frauen ermöglichen kann, mit dem Weglächeln aufzuhören. Über eine moderne Gesellschaft, deren Repräsentanten nicht nur offiziell, sondern auch jenseits des Protokolls endlich Abschied nehmen vom immer noch testosterongetränkten männlichen Rollenbild, zu dem es am Ende gehört, abends an der Bar den jungen Frauen zu sagen, wo es langgeht.