Die Proteste gegen ein Bauvorhaben in Istanbul haben sich auf die gesamte Türkei ausgeweitet. Hinter ihnen steckt mehr als der Unmut über Großprojekte: es ist der Unmut über die selbstherrliche Politik des Premiers, meint der StZ-Autor Gerd Höhler.

Istanbul - Aus wirtschaftlicher Sicht war die Zeit seit dem Amtsantritt des islamisch-konservativen Premierministers Tayyip Erdogan für die Türkei ein goldenes Jahrzehnt. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdreifacht, das Land stieg unter die 20 größten Wirtschaftsnationen der Welt auf. Auch politisch ist die Ära Erdogan von einer Stabilität gekennzeichnet, wie sie die krisengeplagte Türkei seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Doch wie trügerisch diese Stabilität ist, zeigen die Unruhen, die sich, ausgehend vom Istanbuler Taksim-Platz, über das ganze Land ausbreiten. Was als Protest gegen die Zerstörung des Gezi-Parks begann, wird zu einem Aufbegehren gegen den zunehmend autoritären Führungsstil Erdogans und die ideologische Dominanz seiner islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei.

 

Es ist kein Zufall, dass die Proteste am Taksim-Platz begannen, wo ein beliebter Park der Rekonstruktion einer Kaserne aus der ottomanischen Ära weichen soll. Denn das Bauvorhaben dort ist nur eines von mehreren umstrittenen Großprojekten wie der dritten Bosporusbrücke, dem geplanten Kanal vom Schwarzen Meer zum Marmarameer oder dem künftigen Großflughafen, den ein früherer Chef der Fluggesellschaft Turkish Airlines als überflüssig bezeichnete, weil man die beiden bestehenden Istanbuler Airports erweitern könne.

Die Bürger fühlen sich übergangen

Doch es geht nicht um Bedarf und Nutzen. Erdogan will mit diesen Bauvorhaben, zu denen auch eine Riesen-Moschee auf dem Camlica-Hügel über dem Bosporus gehört, der Stadt seinen Stempel aufdrücken. Er will sich verewigen wie es einst Sultan Mehmet II. mit dem Topkapi-Palast oder Sultan Ahmed mit der Blauen Moschee taten. Doch Erdogans Projekte haben einen gemeinsamen Nenner: Ihnen fehlt der gesellschaftliche und politische Konsens. Die Bürger fühlen sich übergangen.

Jetzt entlädt sich der aufgestaute Zorn der Menschen über die Arroganz der Macht, ihre Wut auf die islamisch-konservative Regierung, die der Gesellschaft ihre religiösen Wertvorstellungen aufzuzwingen versucht – zum Beispiel mit den Alkohol-Verboten, die Erdogan im Eilverfahren durchs Parlament peitschte. Istanbul ist nicht Kairo, Erdogan kein Mubarak. Aber sein selbstherrlicher Führungsstil irritiert. Früh hat sich der türkische Premier im arabischen Frühling auf die Seite derer geschlagen, die gegen diktatorische Regime aufbegehrten, ob in Libyen, Ägypten oder Syrien. Aber gelernt hat er aus diesen Bewegungen offenbar nichts.

Erdogan hält unbeirrt an seinen Plänen fest

Während sich die unterdrückten Völker im Nahen Osten und Nordafrika nach mehr Demokratie sehnen, ist Erdogan dabei, seinem Land eine Präsidialverfassung zu verpassen, die dem künftigen Staatsoberhaupt eine ungewöhnliche Machtfülle geben soll. Es ist kein Geheimnis, dass Erdogan selbst im kommenden Jahr ins höchste Staatsamt aufsteigen will. Eine Aussicht, die vielen Türken Unbehagen bereitet. Braucht die Türkei einen „starken Mann“?

Jahr für Jahr listen EU-Kommission und Menschenrechtsorganisationen die türkischen Demokratie-Defizite auf. Sie reichen von Repressionen gegen religiöse und ethnische Minderheiten über Einschränkungen bei der Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Polizei-Willkür, wie sie bei den brutalen Einsätzen gegen die Demonstranten einmal mehr zu beobachten ist. Es begann mit friedlichen Bürgerprotesten gegen das Fällen einiger Bäume. Inzwischen fordern die Demonstranten den Rücktritt der Regierung. Doch Erdogan hält unbeirrt an seinen Plänen fest, will das Bauvorhaben trotz eines inzwischen erlassenen gerichtlichen Baustopps fortsetzen. Die Hunderttausende von Demonstranten sind für ihn „Extremisten“. Damit treibt der Premier die Eskalation weiter voran, er spielt mit dem Feuer. Der Taksim- ist nicht der Tahrir-Platz. Aber die Bilder von dort ähneln beunruhigend denen aus Kairo.