Europa beginnt beim Zähneputzen. Hätten Sie’s gewusst? Auch sonst müssen die Vorzüge der europäischen Union anschaulich gemacht, findet Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Das europäische Haus wackelt. Zum Glück steht das Europahaus in Stuttgart noch. Oder sagen wir das Europahäusle. Bestehend aus einem Foyer für Besucher und ein paar Büroräumen in der Nadlerstraße 4 gleich hinter dem Rathaus. Zur Jahreswende muss man hier raus. Nicht wegen des Brexit, sondern weil der Mietvertrag endet und dort, wo jetzt die Geschäftsstellen des Europa-Zentrums Baden-Württemberg des Landesverbands der Europa Union und ein Informationszentrum untergebracht sind, ein Designhotel entsteht. Die Einrichtung als solche jedoch bleibt erhalten, und das ist eine gute Nachricht in einer Zeit, in der die Idee vom europäischen Haus bröckelt wie Putz von nassen Wänden.

 

Eine gute Nachricht ist es auch, dass viele Bürger das Europahaus als Anlaufstelle nutzen, um Fragen zur EU zu stellen und sich zu informieren. Gerade jetzt in Krisenzeiten. Erst mal bewahrheitet sich nicht, dass nach dem britischen Nein zur EU die Europaskepsis wächst, wie Europaminister Guido Wolf düster orakelte. Zumindest nicht im Europahaus in der Nadlerstraße. Dass Wolf eigentlich Justizminister ist und im Nebenjob Tourismus und Europa macht, sagt übrigens vieles über den Stellenwert des Themas in der Politik aus. Hallo Grün-Schwarz: Europa hat mehr Aufmerksamkeit verdient!

Den Tragic Johnsons etwas entgegensetzen

Eine Möglichkeit wäre es, das Europahaus zu stärken und damit auch die Bildungsarbeit, die dort geleistet wird. Sie muss neue Wege gehen, um den nationalistischen Spaltern und Tragic Johnsons des Kontinents etwas entgegenzusetzen. Das ist leichter gesagt als getan, denn der billige Spott über den von Brüssel verfügten Krümmungsgrad der Banane übertönt allemal die leider oft sehr akademischen Beschwörungen Europas als Friedensprojekt. Wichtig ist es deshalb, die praktischen Vorzüge der Europäischen Union anschaulich zu machen. Das geschieht zum Teil bereits. Wenn Schüler im Europahaus oder bei Studienfahrten nach Straßburg mit der EU in Kontakt kommen, erfahren sie, dass Europa beim Zähneputzen beginnt – in Form des EU-Wasserstandards. Die EU im Alltag kenntlich zu machen, ist ein Weg, Europa zu stärken. Auf dieser Grundlage kann man konstruktiv mit seinen Defiziten umgehen.

Für viele junge Leute lebt Europa

Adressat ist auch das Rathaus. Wo sind die Zeichen, die das weltoffene Stuttgart jetzt setzt? Die Stadt könnte zum Beispiel EU-Flagge zeigen – als passende Ergänzung zum schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer, das die Fußball-Europameisterschaft hervorgebracht hat. Europas Fahne ist in jeder Weise vorzeigbar – auch ihr Symbolgehalt. Die zwölf goldenen Sterne auf blauem Grund stehen für Einheit, Solidarität und Harmonie zwischen den Völkern – man vergisst das oft. „Wie die zwölf Zeichen des Tierkreises das gesamte Universum verkörpern, so stellen die zwölf goldenen Sterne alle Völker Europas dar, auch diejenigen, welche an dem Aufbau Europas in Einheit und Frieden noch nicht teilnehmen können“, heißt es in der amtlichen Erläuterung zur Einführung der Fahne von 1955. Von der Umsetzung ist Europa zwar noch immer weit entfernt. Doch erfreulich viele junge Leute streben genau danach – unbeeindruckt von Brexit und Panikmache. Europa lebt!

Flagge zeigen – das kann im Übrigen jeder einzelne. Es muss ja nicht gleich ein EU-Auto-Corso sein. Obwohl . . . auch das wäre ein Stück Anschaulichkeit. Leider bietet das Europahaus keine Fahnen an. Noch nicht.

jan.sellner@stzn.de