Die Sicherheitslage birgt aus Sicht von Kanzlerin Merkel Risiken für den geplanten Abzug bis Ende 2014. Recht hat sie, meint Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Masar-i-Scharif - Es hat ganz den Anschein, als hinterlasse die US-Armee in Afghanistan eine völlig verbrannte Erde. Erst urinieren einige Marines auf tote Talibankämpfer, dann werden Dutzende Koranbücher verbrannt, und nun tötet ein Amokläufer 16 unschuldige Kinder, Frauen und Männer. Die Schreckensbilanz der vergangenen Wochen gewinnt noch an Schärfe vor dem Hintergrund einer brachialen Kriegsführung, die viel unnötiges Leid über Unbeteiligte bringt. Kann man es den afghanischen Zivilisten verübeln, wenn sie sich gegen vermeintlich menschenverachtende Besatzungsmächte aufwiegeln lassen?

 

Die Mission am Hindukusch ist auch deswegen ein Misserfolg, weil psychisch entgleiste US-Soldaten immer wieder einreißen, was die internationale Gemeinschaft mühsam errichtet hat. Sehr unwahrscheinlich  ist, dass die Bundeswehr eben-solche Amokläufer hervorbringt. Dennoch sollte ihr das Blutbad eine Warnung sein, der Traumatisierung durch den Einsatz mehr Beachtung zu schenken. Die Zahl der geschädigten Soldaten wächst auch bei uns.

Die Taliban gewinnen immer mehr Einfluss

Dass die Kanzlerin in dieser Situation die deutschen Uniformierten besucht, ist ein glücklicher Umstand. Im Heerlager bei Masar-i-Scharif erhielt Angela Merkel nicht nur die Gelegenheit, die eigenen Soldaten zu motivieren, sondern auch das demolierte Bild der Schutztruppe in der afghanischen Öffentlichkeit zu korrigieren.

Ein großer Teil der Bevölkerung, der auf die Anwesenheit der Schutztruppe Isaf nicht verzichten mag, würde einen späteren Abzugstermin als Ende 2014 gewiss begrüßen. Denn längst ist klar: je näher der Termin rückt, desto mehr Einfluss gewinnen die Taliban zurück. Gebiete, die vor Kurzem noch von der Isaf kontrolliert wurden, werden nach der Räumung von den Radikalen übernommen. Auch die veränderte Strategie der Aufständischen hat mit dem angekündigten Rückzug des Bündnisses zu tun. Statt sich wie früher in Gefechten aufzureiben, konzentrieren sie sich nunmehr auf Selbstmordattentate, auf das Vergraben von Sprengkörpern und auf das Aufhetzen von Menschenmassen.

Ein Abzug bis Ende 2014 wäre überhastet

In vielen Ortschaften ihres Einsatzgebietes hat sich die Bundeswehr nie einen ungefährdeten Zutritt verschaffen können. Die Taliban müssen also nur warten und ihre Kräfte sammeln. Die Kanzlerin könnte etwas Zeit gewinnen. Denn der Aufbau der Sicherheitskräfte sollte so weit voranschreiten, dass die Afghanen halbwegs Ordnung herzustellen vermögen. Ende 2014 ist in der Hinsicht ein zu früher Zeitpunkt. Dass Merkel dies jetzt offen ausspricht, zeugt von einem wachsenden Realitätssinn. Beeinflusst wurde sie offenbar von den verantwortlichen Offizieren vor Ort. In Berlin hingegen, wo ihre Aussagen sogleich relativiert wurden, dominiert offenbar noch immer die bekannte Unehrlichkeit.

Obama, Sarkozy und Merkel schielen auf den Wahltermin

Binnen zehn Jahren wurde einiges erreicht: die Bildung, die Gesundheitsversorgung, die Infrastruktur – gerade im Norden konnte vieles verbessert werden. Weil aber zugleich an die 2900 Nato-Soldaten gefallen sind, wollen sich fast alle großen Truppensteller des Abenteuers rasch entledigen. Nicht nur US-Präsident Barack Obama oder Frankreichs Staatsoberhaupt Nicolas Sarkozy haben den nächsten Wahltermin fest im Blick. Auch Schwarz-Gelb sieht sich mit Blick auf den Herbst 2013 unter Druck, den Abzug zügig zu vollenden.

Mit Afghanistan sind keine Wählerstimmen zu gewinnen. Somit wird die Politik der Mächtigen eher von innenpolitischer Taktiererei bestimmt als von den Interessen des Bündnisses. Sinnvoller als ein überhasteter Abzugswettbewerb wäre ein international synchronisierter Fahrplan, der über das Jahr 2014 hinausreicht. Die Regierung in Kabul muss stärker in die Pflicht genommen werden als bisher, braucht aber auch eine verlässliche langfristige Perspektive. Sollte das Land bald im Bürgerkrieg versinken, wäre vieles vergebens gewesen.