Bei den Protesten der Menschen in Hongkong geht es nicht nur um den Wunsch nach mehr Demokratie. Sie wehren sich ganz generell gegen die Bevormundung durch China, analysiert der StZ-Redakteur Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Wahrscheinlich ist der Untergang der Sowjetunion nirgendwo besser aufgearbeitet worden als in China. Scharen von Wissenschaftlern haben sich damit beschäftigt, welche Fehler die Machthabenden in Moskau gemacht haben – und warum sie vertrieben wurden. Sie sind zu der Erkenntnis gelangt, dass das harte Vorgehen gegen die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Mai 1989 unter dem Aspekt des Machterhalts erfolgreicher gewesen ist als die Öffnungspolitik Michail Gorbatschows. Sie haben auf den Frühling im arabischen Raum geschaut und blicken seit dem letzten Winter auf die Ukraine. Was dort als Marsch für Demokratie begann, hat den Präsidenten hinweggefegt und zu neuen Grenzen in Europa geführt. Das alles spielt eine Rolle, wenn die Herrscher der Kommunistischen Partei nun aus Peking die Ereignisse in Hongkong analysieren. Und das lässt zunächst nichts Gutes erahnen.

 

Zeitgewinn ist nicht das Schlechteste

Doch noch ist nicht so ganz klar, in welche Richtung sich der Protest auf den Straßen der ehemaligen Kronkolonie entwickelt. Und noch ist nicht klar, welche Antwort Peking auf die Herausforderung geben wird. Am Mittwoch, dem Nationalfeiertag der Volksrepublik, werden die Demonstranten wohl erst noch einmal machtvoll auf sich aufmerksam machen. Schließlich gelingt es da, die Herrschenden besonders zu reizen. Andererseits braucht es zu diesem Datum nicht einmal eine Zensur Pekings, um die Nachrichten vom Kampf für Freiheit und Demokratie in den Medien zu unterdrücken. Den Chinesen steht die sogenannte Goldene Woche bevor. In den ersten sieben Tagen des Oktobers wird geschlemmt, gefeiert und gereist. Politische Themen stehen da hintan.

In einer aufgewühlten Atmosphäre ist ein Zeitgewinn nicht das Schlechteste. Allerdings fällt auch langfristig eine Lösung des Problemes schwer, denn nur vordergründig geht es bei den Protesten um die Freiheit der Wahlen im Jahr 2017. Die hatte China versprochen, als es die Sieben-Millionen-Metropole 1997 von London übernahm. Nun hat Peking seine Pläne konkretisiert. Demnach sollen die Hongkonger zwar die Wahl ihres Verwaltungschefs haben, die Vorauswahl trifft aber Peking. Das mag den einen oder anderen Bewohner der Metropole erzürnen, die Wucht des Protestes erklärt das nicht. Die wird verständlich, wenn man das Verhältnis zwischen den Bewohnern Hongkongs und Festlandchinas betrachtet. Das ist schlecht.

Der Unmut über die Chinesen wächst

Noch vor zwei Jahrzehnten ging es Hongkongern deutlich besser als Chinesen. Das hat sich geändert. Mit dicken Brieftaschen stürmen Jahr für Jahr immer mehr der ehemals armen Brüder in die Sonderverwaltungszone. Manch einen Hongkonger Geschäftsmann hat das reich gemacht. Weit mehr als 700 Euro gibt ein chinesischer Tourist im Schnitt pro (Kurz-)Aufenthalt aus, weit mehr als Amerikaner oder Europäer. Die Masse der ehemals Privilegierten sieht jedoch die Kehrseite des Booms. Die Wohnungspreise schießen durch die Decke, seitdem die Käufer aus Peking und Chengdu kommen. Die Universitäten sind überfüllt mit Studenten, die in Shanghai oder Hangzhou geboren wurden. Manch eine Hongkongerin bekommt im Krankenhaus keinen Entbindungstermin, weil Frauen aus Guangzhou und Harbin die Betten belegen.

Es ist der seit vielen Jahren aufgestaute Missmut gegen Chinesen, der die Hongkonger auf die Straße treibt. Das kann zunächst etwas Gutes haben: Wenn Peking zu dem Schluss kommt, dass die Demonstranten nicht den Alleinvertretungsanspruch der Partei in Frage stellen, werden sich Wege finden, die Angelegenheit beizulegen. Schlecht daran ist: die soziale Ungleichheit, die zwischen Hongkongern und Chinesen zum Vorschein kommt, findet sich auch innerhalb Chinas nahezu überall. Es ist eine Frage der Zeit, bis sie offen zu Tage tritt.