Russlands Präsident Wladimir Putin verletzt im Ukraine-Krieg mit vollem Kalkül die Regeln der Weltgemeinschaft. Doch er wird mit seinem aggressiven Vorgehen wohl durchkommen, befürchtet der StZ-Redakteur Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Man kann in diesen Tagen nicht oft genug in die Präambel der UN-Charta schauen. Von guten Nachbarn, die in Frieden miteinander leben sollen, ist da die Rede. Davon, dass sich die Völker der Welt von der Geißel des Krieges befreien. Das sind weise Worte. Grundsätze, die inzwischen 193 Staaten unterschrieben haben. Trotzdem ist der Frieden bedroht wie schon lange nicht mehr. In Syrien, im Irak, in Gaza, in der Ukraine.

 

Die UN haben seit ihrer Gründung 1945 einen fein austarierten Mechanismus an friedenstiftenden und -erhaltenden Maßnahmen ersonnen. In Osttimor, in Mali oder der Westsahara, da hat das ausgereicht, da konnte die Gemeinschaft den vergleichsweise kleinen Aggressoren wirksam entgegentreten. Wenn sich aber ein starkes Mitglied der Staatengemeinschaft nicht mehr an die Regeln hält, dann ist das Repertoire möglicher Gegenmaßnahmen beschränkt. Russland ist stark. Und Russland verstößt massiv gegen die Regeln.

Als die Krise in der Ukraine noch eine Krise war, da hat es viele gute Gründe für Moskau gegeben, sowohl dem Westen als auch den Äußerungen Kiews zu misstrauen. Die gibt es immer noch. Aber sie rechtfertigen nicht, russische Soldaten und russische Panzer auf ukrainischem Boden schießen und töten zu lassen. Aus der Krise ist so ein Krieg geworden. Es gibt eine Hemmschwelle, dieses Wort zu benutzen, zumal in diesen Tagen, in denen der Kriege gedacht wird, die vor 100 beziehungsweise 75 Jahren ihren Anfang nahmen. Mit denen ist das Töten im Osten der Ukraine bei aller Dramatik nicht zu vergleichen.

Viele Gründe sprechen gegen Sanktionen

Militärisch hat Kiew nicht die Mittel, die  Separatisten zurückzudrängen, solange diese von Russland unterstützt werden. Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Zum einen kann sich Kiew militärische Verbündete im Westen suchen. Die gibt es bei aller verbalen Solidarität nicht – zum Glück, denn im Ergebnis würden Tod und Leid nur steigen. Die andere Möglichkeit besteht darin, die Unterstützung der Separatisten zu beenden. Dafür gibt es wieder zwei denkbare Vorgehensweisen. Sanktionen gegen Russland ist die eine, Gespräche mit Moskaus Marionetten in der Ostukraine die andere. Beides taugt nicht viel. Beides wird man trotzdem brauchen.

Es gibt viele Gründe, die gegen Sanktionen sprechen. Die Spirale der Maßnahmen und Gegenmaßnahmen lässt sich ins Unermessliche weiterdenken. Schlimmstenfalls steht am Ende Russland ohne Devisen da – und große Teile Europas ohne Gas. Das wird nicht zuletzt die Ukraine selbst treffen, der sowohl bei der Energie als auch bei Lebensmitteln ein dramatischer Engpass droht. Jetzt wäre Erntezeit, stattdessen wird gekämpft. Die westliche Welt wird schon bald einspringen müssen. 500 Millionen Euro, die Kanzlerin Merkel an Hilfe zugesagt hat, sind da nur ein Nasenwasser. Trotzdem führt an schärferen Sanktionen kein Weg vorbei. Zum einen, um Russland klar zu zeigen, dass es Regeln massiv verletzt. Zum anderen, damit der Westen mit sich selbst im Reinen ist. Untätigkeit quält.

Man muss mit den Separatisten verhandeln

Dass Sanktionen alleine zielführend sind, ist unwahrscheinlich. Weswegen es gar nicht anders geht, als mit den Separatisten zu verhandeln. Es gibt viele Gründe, die dagegen sprechen. Die Aufständischen vertreten nicht das Volk, haben kein Mandat und vermutlich auch keinen Plan. Sie werden von Moskau vorgeschoben. Allerdings: wer sich den Gesprächen verweigert, der nimmt in Kauf, dass das Töten weitergeht.

Natürlich ist das unbefriedigend. Noch weniger erträglich ist der Gedanke, dass es am Ende nicht mehr die Ukraine in den bisherigen Grenzen geben wird. Doch so wird es kommen. Weil Moskau die Bereitschaft dazu hat, Regeln zu verletzen, und weil dem kurzfristig nichts entgegenzusetzen ist. Offiziell kann das im Westen niemand sagen. Aber Kiew und seine Berater täten gut daran, es einzuplanen.