Schottland stimmt über den Verbleib im Vereinigten Königreich ab. Doch egal wie dieses Votum ausgeht, Großbritannien muss komplett umgestaltet werden, analysiert der Londoner StZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Zu Beginn dieses Sommers war in britischen Zeitungen eine Nachricht zu lesen, die vor allem älteren Briten beträchtlichen Kummer bereitete. Von neuen Umfragen war die Rede, die zeigten, dass der Stolz der Briten auf ihre nationale Identität auf ein so niedriges Maß gesunken war wie noch nie – vor allem unter jungen Leuten. Wenige Monate später, in diesem September, zeigt nicht mehr nur der Stolz auf britische Identität Risse. Jetzt droht sogar schon das Objekt des Stolzes, Britannien selbst, auseinanderzufallen.

 

Vor den Augen der Welt beginnt das Vereinigte Königreich eine erstaunliche Transformation zu durchlaufen. In seiner vertrauten Form kann Großbritannien nicht weiterbestehen. Es muss komplett umgestaltet werden – egal, wofür die Schotten an diesem Donnerstag stimmen. Das schottische Unabhängigkeitsbegehren zwingt nicht nur die Schotten, sondern alle Briten dazu, bislang Undenkbares zu denken. Macht sich Schottland selbstständig, braucht der Rest Britanniens eine gänzlich neue Identität, vielleicht eine neue Flagge, wahrscheinlich einen neuen Namen. Das Selbstbild der Briten in der Welt wird sich grundlegend wandeln müssen. Bleibt Schottland aber, sollen ihm und den anderen Teilen des Königreichs vollkommen neue Formen regionaler und nationaler Autonomie eingeräumt werden. Dazu haben sich die drei großen Parteien feierlich und in aller Öffentlichkeit verpflichtet.

Die Bande des Zusammenhalts verlieren an Kraft

In der Vergangenheit hatten die meisten Engländer „britisch“ noch als erweiterten Begriff von „englisch“, als lockeren und einigermaßen unbestimmten Überbegriff verstanden. Jetzt werden Identitäten geprüft, werden Grenzen gezogen, werden alte Interessen neu vermessen. Die Bande, die Britannien so lange zusammenhielten, scheinen an Kraft zu verlieren. „Das Vereinigte Königreich“, urteilt der Historiker Sir Tom Devine, „erfüllt seinen Zweck nicht mehr.“ Nun werde wohl, klagt der schottische Autor Ian Jack, die „britische Identität nach und nach dahinwelken“.

Wahr ist, dass britische Identität im Ringen um Schottland kaum eine Rolle gespielt hat. Meist beschränkten sich die Repräsentanten der Union auf Drohungen, auf Untergangsszenarien für den Fall eines schottischen Ausscherens. Ein positives Bild dessen, wofür Großbritannien als Ganzes stehe und in der Zukunft noch stehen könne, suchte kaum jemand zu zeichnen.

Viele kommen ohne die alten Klammern aus

Das mag auch dazu beigetragen haben, dass so viele Menschen in Schottland glauben, ganz ohne die alte Klammer auskommen zu können. Früher einmal war es anders. Im 18. und 19. Jahrhundert dünkte die Union zwischen England und Schottland beiden Seiten noch nützlich. Industrielle Revolution und Kolonialreich brachten Profit und Jobs. Protestantismus, Industrie und Empire schmiedeten beide Nationen zu einem erfolgreichen großen Britannien zusammen. Seither haben industrieller Niedergang, die Auflösung des Empire und die sich leerenden Kirchen die Zweckdienlichkeit des alten Bündnisses untergraben.

Jene, die die Union bewahren wollen, verweisen auf neue Klammern, die sich gebildet haben: auf die BBC zum Beispiel, auf den NHS, das nationale Gesundheitswesen, auf den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit. Selbst Schottlands Nationalisten wollen diese soziale Union auf den Britischen Inseln erhalten. Für Briten, denen wenig an der alten Größe Britanniens liegt, bedeutet „britisch“ heute Liberalität, Weltoffenheit und Vielfalt von Hautfarben. Sie schätzen ein multikulturelles, auch ein multinationales Gesellschaftswesen.

Die Verteidiger dieser Werte wollen, auf andere Weise als frühere Generationen, wieder stolz darauf sein, als Briten zu gelten. Ihnen wäre es lieber, wenn Schottland zu England hielte. Aber im Strudel der neuen Ereignisse gibt es keine Garantien. Mit einem Mal ist auf den Britischen Inseln alles in Bewegung gekommen.