Beim Kampf gegen die Steueroasen geht es um mehr als um ein paar Milliarden Euro. Es geht auch um die Frage, ob der Staat für Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgen kann, meint der stellvertretende Chefredakteur der StZ, Michael Maurer.

Stuttgart - Wenn man sich die Frage stellt, was jede Gesellschaft zusammenhält, dann landet man schnell bei der Gerechtigkeit. Es wird immer Unterschiede in der Bildung, in der sozialen Hierarchie oder im privaten Vermögen geben, die geeignet wären, den Zusammenhalt zu sprengen. Wenn der Einzelne aber das Gefühl hat, dass ungeachtet dieser Ungleichheiten jeder den gleichen Regeln und Gesetzen mit der gleichen Konsequenz unterworfen ist, kann eine Gemeinschaft diese Unterschiede einigermaßen unbeschadet aushalten. Umso größer ist jedoch die Gefahr, wenn das Gefühl dieser Gleichbehandlung verloren geht, wenn die viel beschworene „soziale Gerechtigkeit“ zur bloßen Phrase verkommt. Dieses Gefühl hat in den vergangenen Jahren nicht nur die Menschen in Deutschland beschlichen, sondern auch in vielen anderen europäischen Staaten. Ganz zu schweigen von den Zuständen in weiten Teilen der Welt.

 

Das Projekt „Offshore Leaks“ hat nun den Blick frei gegeben auf ein gigantisches Netz globaler Finanzströme, dessen Existenz das Vertrauen in ein gerechtes Gesellschaftssystem weiter schwinden lässt. Sowohl in Deutschland als auch in den anderen betroffenen Ländern. Sicher: nicht jede Briefkastenfirma ist illegal. Auch mag die Grenze zwischen legaler Steuervermeidung und illegaler Steuerhinterziehung nicht immer eindeutig sein.

Verdacht des massenhaften Steuerbetrugs

Genauso sicher ist jedoch, dass bei einem Geflecht aus 122 000 Firmenkonstrukten, an dem 130 000 Personen plus 12 000 Vermittler aus 170 Ländern beteiligt sind, und das sich bevorzugt über solch paradiesische, weil regulierungsfreie Orte wie die Cook-Inseln, die Cayman-Inseln oder die Seychellen spannt, die Steuerehrlichkeit nicht das Leitmotiv ist. Der Verdacht, dass es sich dabei um massenhaften Steuerbetrug handelt, muss erst einmal widerlegt werden.

Mehr als 80 Journalistinnen und Journalisten aus 46 Ländern haben in 15-monatiger Arbeit aus einem Wust von 2,5 Millionen Dokumenten dieses dubiose System der Finanzströme herausdestilliert. Dank ihrer Recherchekünste kann man im Detail nachlesen, was bisher nur Vermutung gewesen ist. Diese gemeinsame Leistung von Datenexperten und Journalisten ist gewaltig. Wer sonst hätte diese weltweit vernetzte Analyse vornehmen können, wenn nicht kritische Journalisten, die sich vor allem ihrer Arbeit als Aufklärer verpflichtet fühlen? Sie zeigen damit auch, dass eine Gesellschaft auf Qualitätsjournalismus nicht verzichten kann. Und sie widerlegen Kritiker wie (ausgerechnet!) den Geschäftsführer einer großen westdeutschen Mediengruppe, der fabuliert hat, Journalisten produzierten „Zeitungen für sich und die Journalistenkollegen“, vergäßen darüber aber die Leser. Wo könnte der Journalismus näher an der Welt seiner Leser sein als bei der Aufdeckung eines Systems, das die Brüche in der Gesellschaft dokumentiert?

Die Staatsgewalt muss reagieren

Doch die Arbeit der informellen vierten Gewalt im Staat kann eine tiefere Wirkung nur entfalten, wenn die drei institutionellen Elemente der Staatsgewalt – Legislative, Exekutive und Judikative – auf die Enthüllungen reagieren. Journalismus kann aufdecken und Konsequenzen anmahnen. Aufgabe von Politik und Rechtsprechung ist, Regeln zu definieren, ihre Einhaltung zu überwachen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Um beim aktuellen Fall zu bleiben: es genügt nicht, wenn Steuerbetrüger durch Veröffentlichungen verunsichert werden. Und es geht beim Kampf gegen Steueroasen um mehr als um den Verlust von ein paar Milliarden Euro an Steuereinnahmen. Es geht darum, dass der Staat das Vertrauen in seine Autorität stärkt, indem er Gerechtigkeit schafft. In puncto Steuergerechtigkeit ist dieses Vertrauen trotz aller Bemühungen auf nationaler und internationaler Ebene vorerst nicht gerechtfertigt. Dafür ist „Offshore Leaks“ der Beweis.