Die Grünen zeigen beim Volksentscheid ein taktisches Verhältnis zur Politik. Ein Kommentar von StZ-Redakteur Reiner Ruf.

Stuttgart - Es gehört zu den Eigenheiten des Lebens, dass sich auch kunstvoll vertuschte Gegensätze niemals auf Dauer unterdrücken lassen. Im Gegenteil, je ärger ein unausgesprochener Konflikt in den Gemütern schwelt, umso schneller lodert er bei der erstbesten Gelegenheit auf. Das zeigt sich jetzt wieder bei den Koalitionsverhandlungen in Stuttgart, wo Grüne und SPD dabei sind, sich an den Abgrund des Scheiterns zu manövrieren. Die Mienen der Beteiligten verdüstern sich zusehends, der Ton nimmt an Schärfe zu, die Sätze geraten apodiktisch - von Liebesheirat keine Spur mehr. Eigentlich seltsam, denn der Brandherd der Verstimmung war doch - so hatte man glauben wollen - erfolgreich eingehegt. Eine Volksabstimmung, so versprachen Grüne und SPD scheinbar einträchtig vor der Wahl, sollte die Klüfte einer uneinigen Bürgerschaft überbrücken und den gesellschaftlichen Frieden wiederherstellen.

 

Doch diese Hoffnung löst sich gerade in Luft auf, und es sind die Grünen, die daran großen Anteil haben. Undeutlichkeit in der Ansage galt einmal als bewährtes Stilmittel der Politik. Wer die Dinge nicht klar beim Namen nennt, sondern etwas vernuschelt darreicht, der bewahrt sich einen Spielraum bei der Regierungsarbeit. Das ist vom Ansatz her gar nicht so verwerflich. Denn Politik muss sich im demokratischen Widerstreit der Interessen eine gewisse Flexibilität bewahren, will sie nicht in Starrsinn und Rechthaberei enden. Bei Stuttgart 21 jedoch verbieten sich Finessen - so wie Politik ganz generell unter dem Brennglas einer informierten Öffentlichkeit sehr viel mehr als früher auf die Verbindlichkeit der eigenen Ankündigungen festgelegt ist.

Im Landtag ist die Mehrheit für Stuttgart 21

Das gilt umso mehr für ein derart mit Emotionen angereichertes Thema wie Stuttgart 21. Grüne und SPD hatten im Wahlkampf und in ihrem Abschlussvotum zum Polizeieinsatz im Schlossgarten eine Volksabstimmung in Aussicht gestellt. Sie hatten nicht, wie der designierte Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Dienstag formulierte, eine Volksabstimmung unter der Voraussetzung einer vorherigen Verfassungsänderung angekündigt. Sie taten dies im Wissen um die hohen Hürden, welche die Landesverfassung einem erfolgreichen Volksentscheid entgegenstellt. Hürden, über die sich zwar zutreffend sagen lässt, dass sie eher geeignet scheinen, Volksabstimmungen verhindern, als sie zu ermöglichen, aber völlig unüberwindbar sind sie nicht. Im Landtag dagegen gibt es nicht den Hauch einer Mehrheit gegen Stuttgart 21. Dort stehen die Grünen allein, auch wenn sie den Regierungschef stellen können.

Volksentscheide gelten bisher als das letzte Wort im demokratischen Meinungsstreit. Wo kein versöhnendes Wort mehr fällt und kein Friede mehr zu stiften ist, ermöglichen sie eine unhintergehbare Lösung. Die Grünen zerstören diesen Konsens, wenn sie jetzt einem Volksentscheid nach den Regeln der Landesverfassung keine befriedende, sondern eine eskalierende Wirkung zusprechen. Die Unzufriedenheit über die Kautelen in der Landesverfassung ist berechtigt. Grün-Rot kann versuchen, sie zu ändern. Politik ist nun mal das Bohren dicker Bretter. Das Angebot der alten Landesregierung eines Viertelquorums statt eines Drittelquorums für die Annahme von Volksentscheiden hatten sie abgelehnt. Jetzt hätte es ihnen helfen können.

Was aber nicht geht, das ist freihändige Zurechtinterpretieren der geltenden Verfassung nach dem Motto: Wir lassen mal abstimmen, halten uns aber nicht an das Quorum, demzufolge ein Drittel der Wahlberechtigten die Vorlage annehmen muss. An die Verfassung - dem bekennenden Verfassungspatrioten Kretschmann kann der Gedanke unmöglich fremd sein - ist jede Regierung gebunden. Wer dies missachtet, entwertet den Volksentscheid als friedensstiftendes Mittel. Denn egal, wie er konstruiert ist: je nach Interessenlage lässt er sich immer irgendwie delegitimieren.