Demokraten! Misstraut den Massen, bleibt bei euren Institutionen! Dafür wirbt die StZ-Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Leute, Bürger, Wähler! Seht her, schaut auf diese Stadt, schaut auf Stuttgart, schaut auf diesen Ort, an dem Beispielhaftes geschieht. Denn hier kann man lernen, was es mit dem von Aristoteles sogenannten zoon politicon auf sich hat, mit dem Menschen als einem politischen, geselligen, in der Polis, in der Stadt lebenden Tier.

 

Es ist, wie wir wissen, eine äußerst gefährdete und bisweilen auch gefährliche Art. Schon der Einzelne, wenn er losgelassen, kann für sich und andere zur schweren Belastung werden. Doch wehe, wenn der Mensch in enger Gemeinschaft mit anderen, wenn er als Masse zur Ursuppe seines Wesens vordringt.

Dann fallen Grenzen, dann versagt die Vernunft, dann sind wir ganz Gefühl, dann sind wir verführbar, dann wächst die Neigung zum Wahn ebenso wie der wilde Wille, auf Biegen und Brechen das, was wir für wahr und allein seligmachend halten, durchzuboxen und damit gegen alle anderen Wahrheiten recht zu behalten. Das war, wie man weiß, schon oft in der Geschichte eine ziemlich zerstörerische Angelegenheit.

In der Masse reißt uns das Glück zu Taten hin

Natürlich geht es in den Auseinandersetzungen wegen des Stuttgarter Bahnhofs nicht um historisch Relevantes - allenfalls um Bedeutsames für die Region und um ein Signal für den Geist der Zeit. Doch mit Sicherheit ist in dem Theater um Stuttgart 21 wie in einer Nussschale zu beobachten, wohin Politik als Massenveranstaltung führen kann. Es ist ja so schön, Gleichgesinnte unterzuhaken und für eine vermeintlich gute Sache auf die Straße zu gehen. Ob im Fußballstadion, bei der Studentenrevolte oder beim Bahnhofsprotest: in der Masse verschmilzt der Einzelne mit allen anderen, in der Masse reißt uns das Glück, mit so vielen anderen eins zu sein, zu Taten hin, die wir allein nie begehen würden. In der Masse sieht sich das Individuum vervielfältigt, wächst, nimmt zu, fühlt sich groß und mächtig. Und plötzlich erhebt sich seine Position - was immer sie sei - über den Standpunkt aller anderen, wandelt sich, wie in der Landeshauptstadt häufig zu hören, zur "Bewegung", ein in Deutschland historisch belastetes Wort, was aber niemanden zu stören scheint. Denn wo der Mensch in seiner Masse so wahnsinnig bewegt ist, muss er doch mit der gemeinsamen geheiligten Richtung siegen.

Und im Falle des Falles darf er auch zerstören, was sich ihm im Kampf für das Glück auf Erden entgegenstellt. "Der nackten Masse erscheint alles als Bastille", schreibt Elias Canetti, Nobelpreisträger für Literatur anno 1981, in seinem lesenswerten Werk über "Masse und Macht". Warum also sollte es - neben den vielen Bollwerken der Diktatur in aller Welt, die es zu stürmen gilt - nicht auch ein missliebiger Bauzaun im demokratischen Stuttgart sein?

Es ist normal, dass ein Protest aus dem Ruder läuft

Es ist also normal, dass ein Protest wie der gegen den Tiefbahnhof aus dem Ruder läuft. Und wie friedlich oder mit wie viel guten Absichten eine solche "Bewegung" auch beginnt, irgendwann, wenn es zu lange dauert, verselbständigt sich ihr Zweck, irgendwann verstehen die in ihrem Aktionismus Gefangenen tatsächlich nur noch Bahnhof und sonst gar nichts mehr. Irgendwann kommt auch Gewalt ins Spiel. Das konnten die Achtundsechziger nicht verhindern, das passiert auf Fußballplätzen, das geschah im Stuttgarter Schlossgarten. Dort ist zwar noch niemand zu Tode gekommen, doch der Satz, der da gefallen sein soll "Grube auf, Grube rein, Grube zu", wäre immerhin ein Mord in Worten.

So radikalisiert sich ein massenhafter Dauerprotest gleichsam von selbst - je länger und erst recht je vergeblicher er sich hinzieht. Er lockt aber auch Radikale aller Art an. Die finden in dem Geschehen eine Heimat, einen Sinn, eine Bestätigung, eine Beschäftigung. Hier erfahren Leute wie Babyface Matthias von Herrmann, die sonst im Leben noch nicht so furchtbar viel geleistet haben, unverhofft große Aufmerksamkeit und Bedeutung. Das wollen sie begreiflicherweise nicht aufgeben. Also heizen sie dem massenhaften Protest weiter ein und legen unbeabsichtigt Köder aus für Zugereiste, denen es nur noch um Randale geht. Kein Wunder, dass es schwer wird, von diesen Früchten zu lassen. Sie schmecken zu gut.

Nach dem Rausch kommt der Kater

Wo allerdings die Masse, infolge Ermüdung, schließlich doch auseinanderfällt, entsteht Leere. Nach dem Rausch kommt der Kater. Die hochgestimmte "Bewegung" muss dem lähmenden Alltag weichen und sich auf die Mühen der Ebene einlassen. Der eine oder andere eingebildete Wohltäter erweist sich vor Gericht als Straftäter. Das alles ist dann schon entschieden weniger lustig, nicht zuletzt für jene Politik, die sich mit der Masse, diesem von Natur aus wilden Wesen, gemein gemacht hat.

Da bleibt am Ende nur, sich ganz unzweideutig der institutionell gezähmten Seite des zoon politicon zuzuwenden, also den geordneten Verfahren, den Parlamenten, den Gerichten und der an Recht und Gesetz gebundenen Macht eines Amtes. Gleichzeitig regieren und gegen die eigene politische Verantwortung agitieren, das geht einfach nicht zusammen.