Der Aufruhr in Tunesien stellt alte Fragen neu: Gehen wir zu brav mit Despoten um? Wie darf sich ein Regime gerade noch aufführen?

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)
Stuttgart - Wenn Freundschaft darin besteht, seinem Kameraden in der Not beizustehen, dann hat sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy ziemlich schäbig verhalten. Als einer der lautesten hat Sarkozy in der Vergangenheit die Fortschritte der Demokratie in Tunesien gepriesen und Präsident Ben Ali dafür persönlich gewürdigt. Nachdem das tunesische Volk diesen Fortschritt nicht so recht erkannt und seinen Präsidenten in die Wüste gejagt hat, sind selbst die Mitglieder von Ben Alis Familie in Frankreich unerwünscht. Aus dem Blickwinkel des Expräsidenten ist da der Schluss zulässig, dass Sarkozy ein Mann ohne Standhaftigkeit ist und jemand mit geringer Moral. Das mag eine einsame Sichtweise sein, aber das Beispiel zeigt: Moral ist auch eine Frage des Standpunktes.

Der Standpunkt der sogenannten freien Welt ist dabei klar. Demokratie und Meinungsfreiheit, unzensierte Presse und unbehinderte Ausübung der Religion sind Werte, die aus gutem Grund hochgehalten werden. Das ist in der Theorie einfach, in der Praxis ist es schwer. Das US-Forschungsinstitut Freedom House hat erst kürzlich seine Jahresstudie vorgelegt und die Welt in freie, teilweise freie und unfreie Länder eingeteilt. Mit 87:107 sind die als völlig frei bezeichneten Staaten in der Minderheit. Die Mehrheit der Regierungen auf diesem Planeten fühlen sich nicht den genannten Werten verpflichtet. Trotzdem gilt es, irgendwie mit ihnen auszukommen.

Kompromisse sind unausweichlich


Wer frei ist von direkter politischer Verantwortung, der hat es vergleichsweise leicht, seinen Standpunkt zu vertreten. Der kann verlangen, dass Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit überall Einzug zu halten haben, kann Boykottmaßnahmen fordern und einen harten, rigiden Umgang mit denen, die unverrückbare Ideale in Abrede stellen. Regierungen der freien Welt haben es schwerer. Für sie gibt es nicht nur Werte, die es zu wahren, möglichst auch noch zu mehren gilt. Für sie gibt es auch das Leben, in dem neben der Moral knallharte Interessen eine Rolle spielen.

Da benötigt man Erdgas aus Russland oder Zentralasien, Öl oder Solarstrom aus Nordafrika und Absatzmöglichkeiten für die eigene Industrie in China. Sollen heimische Wohnstuben wirklich unbeheizt bleiben oder die eigene Wirtschaft in die Pleite getrieben werden, um Menschenrechte und Demokratie in der Welt zu fördern? Geht man das Risiko ein, dass religiöse Fanatiker ihre Bomben im Herzen Europas detonieren lassen, oder versorgt sich der Geheimdienst doch lieber mit Informationen über Anschlagspläne, die auf eine Art und Weise aus Gefangenen herausgefoltert werden, über deren Details man lieber nichts wissen will? Wer ehrlich zu sich selbst ist, wird erkennen, dass Kompromisse unausweichlich sind. Das Problem wird damit freilich nur auf eine andere Stufe verlagert, die da heißt: Wie darf sich ein Regime gerade noch aufführen, bevor eine Zusammenarbeit mit ihm nicht mehr vertretbar ist? Es gibt keine Richterskala, auf der sich eine Antwort darauf ablesen ließe.

Was es gibt, sind Reaktionen auf dynamische Entwicklungen. So wie die internationale Sympathie mit Tunesiens ehemaligem Herrscher geschwunden ist, wird sie mit Ägyptens Präsident Hosni Mubarak schwinden, sollte das Volk am Nil ähnlich erfolgreich wie seine Nachbarn die Revolutionsfanfare schmettern. So richtig es ist, die Menschen bei ihrem Neubeginn zu unterstützen, so wichtig ist es, politisch Andersdenkende dann nicht zu vergessen, wenn diese sich im Stadium der Unterdrückung befinden und die Entwicklung in ihrem Land stockt. Das ist ein Balanceakt, nicht nur in Nordafrika. Das Eigeninteresse an einer stabilen Region und die Furcht vor einem weiteren Hort des islamistischen Terrors hat nicht nur Nicolas Sarkozy diesen Aspekt vergessen lassen. Moralisch blütenrein ist das nicht. Aber so ist das Leben.