Die Aufregung bei den Grünen ist erheblich. Doch Winfried Kretschmanns Ja zur Asylrechtsreform beweist den Macht- und Realitätssinn des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, kommentiert Reiner Ruf.

Stuttgart - So groß die Aufregung, wenigstens aber das Unbehagen bei den Grünen über Winfried Kretschmanns Zustimmung zur Änderung des Asylrechts auch sein mag: der baden-württembergische Ministerpräsident hat ein machtpolitisches Zeichen gesetzt.

 

Erstens tritt er nach längerem bundespolitischen Abtauchen wieder einmal weithin sichtbar in Erscheinung; dies als zwar skrupulöser, letztlich aber entscheidungsstarker Regierungschef, der sich in einer für die Grünen symbolträchtigen Frage gegen seine Partei zu stellen wagt. So viel Eigensinn wissen die Wähler – und im Südwesten ist der Vorwahlkampf bereits im vollen Gang – durchaus zu schätzen.

Zweitens löst Kretschmann damit seinen Anspruch ein, die politische Mitte zu besetzen. Das allerdings ist nicht nur Ausdruck politischer Willenstärke und Klugheit. Der Druck war einfach zu groß. Hätte sich Kretschmann im Bundesrat verweigert, wäre dies ein gefundenes Fressen für die Opposition im Land gewesen, die sich – unterstützt von Landräten und Bürgermeistern – darin überschlagen hätte, dem einzigen Regierungschef der Grünen vorzuwerfen, er stelle Parteiloyalität über die Interessen des Landes. Kretschmann handelte also durchaus auch als Getriebener.

Die Entscheidung ist staatspolitisch verantwortungsvoll

Schließlich verhält sich der Ministerpräsident – das Wort des SPD-Fraktionschefs Claus Schmiedel mag pathetisch klingen, trifft aber im Kern zu – staatspolitisch verantwortungsvoll. Die teilweise widerwärtige Asyldebatte Anfang der 1990er Jahre endete auch deshalb mit dem Einzug der rechtsradikalen Republikaner in den Landtag, weil in weiten Teilen der Gesellschaft der Eindruck entstanden war, „die Politik“ ignoriere das Flüchtlingsproblem. Und als solches wurde es wahrgenommen: als Problem, mit dem man um Himmels willen nichts zu tun haben wollte.

Nun sind wir ein Vierteljahrhundert weiter. Die Gesellschaft ist offener geworden, die schrecklichen Bilder aus Syrien oder aus dem Irak wühlen nicht nur viele Menschen auf, sie wecken auch Hilfsbereitschaft. Umso wichtiger ist es, diese positive Grundstimmung nicht zu gefährden. Die kleine Asylrechtsänderung wird die Zahl der Flüchtlinge vom Westbalkan nicht drastisch absenken. Zudem besteht kein Zweifel, dass diese Menschen in ihren Herkunftsländern diskriminiert werden. Aber der Ansatz, jene Menschen zuerst aufzunehmen, die um ihr Leben bangen müssen, ist berechtigt. Man kann das zynisch nennen und als eine Aufteilung in Verfolgte erster und zweiter Klasse kritisieren. Doch wenn die Politik nicht rechtzeitig handelt, steht irgendwann eine neue Diskussion über eine große Asylrechtsreform bevor. Das kann auch niemand wollen.

Mag sein, dass Kretschmann mit seinem Votum manch urgrünes Herz verstört. Aber das Verhandlungspaket enthält genügend Verbesserungen im Umgang mit den Flüchtlingen, die bereits hier sind, um den Kompromiss erhobenen Hauptes zu verteidigen. Das können auch Kretschmanns Kritiker in Berlin nicht ausblenden.