Warum eskaliert der türkische Präsident den Konflikt mit der Europäischen Union? Vermutlich aus Schwäche, kommentiert Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Es ist nur ein kurzer verbaler Schlagabtausch auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Aber die wenigen Worte beleuchten wie ein Schlaglicht die Absurdität der Lage. „Demokratie, Grundrechte, Menschenrechte und Freiheiten . . . Alles vergessen in Rotterdam heute Abend. Lediglich Tyrannei und Unterdrückung“, schrieb die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya spürbar aufgebracht am Samstag, nachdem die holländische Regierung ihren Wahlkampfauftritt im Rotterdamer Konsulat verhindert hatte. Der Journalist Can Dündar, vor den Repressionen des Erdogan-Regimes nach Deutschland geflohen, antwortete mit einem ironisch-kühlen Tweet: „Ich freue mich sehr zu sehen, dass türkische Amtsinhaber sich an diese Werte erinnern.“

 

Der Konflikt mit der Türkei eskaliert weiter. Die Schimpftiraden von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Ministerriege werden immer heftiger. Sie zeugen von einer völlig verschobenen, historisch blinden Weltwahrnehmung in Ankara. Wer ausgerechnet die Holländer, die selbst Opfer des Hitler-Terrors waren, wegen der Nicht-Erlaubnis von Wahlkampfveranstaltungen eines ausländischen Regierungsmitglieds als „Nachfahren der Nazis“ und „Faschisten“ verunglimpft, beleidigt ein ganzes Volk und macht sich als Gesprächspartner unmöglich.

Erdogan fürchtet ein Scheitern im Referendum

Die Kritik von Erdogan und den Seinen ist maßlos und widersprüchlich: Ausgerechnet jene, die Hunderttausende eigene Landsleute wegen unerwünschter Meinungen ins Gefängnis werfen oder ihnen die Arbeitsplätze nehmen, pochen im Ausland auf Demokratie und Grundrechte. Im Sinne von Can Dündar ist es angebracht, diese Bekenntnisse zu Meinungs- und Versammlungsfreiheit gut aufzubewahren, um sie der türkischen Regierung bei passender Gelegenheit in Erinnerung zu rufen. Gelegenheiten dazu wird es viele geben.

Erdogan erzeugt eine Hysterie, die eigentlich nur durch Schwäche erklärbar ist. Offensichtlich zweifelt der türkische Präsident an einem Sieg beim Verfassungsreferendum im April. Warum sonst spitzt er die Dinge so zu? Erdogan sucht die Eskalation im Ausland, weil er sich damit für die Wähler daheim als Mann inszenieren kann, der sich von niemandem etwas sagen lässt. Er kämpft mit (fast) allen Mitteln für den Ausbau seiner persönlichen Macht – vermutlich weil er ahnt, dass eine Niederlage beim Referendum der Anfang vom Ende seiner Herrschaft sein kann. Die tiefe Spaltung der türkischen Bürgerschaft in und außerhalb der Türkei nimmt er ebenso in Kauf wie ein dauerhaftes Zerwürfnis mit den Staaten der Europäischen Union.

Hollands Premier Rutte reagiert viel härter als Merkel

Der holländische Premier Mark Rutte hat auf Erdogans Zumutungen härter reagiert als jeder andere europäische Regierungschef. Während Angela Merkel mit Auftrittsverboten nichts zu tun haben will und sogar bemüht war, dem türkischen Außenminister ein Ausweichquartier für einen Auftritt in Hamburg zu organisieren, zeigt der Holländer klare Kante. Das dürfte zum einen daran liegen, dass Erdogan eine neue Eskalationsstufe wählte. Er ließ seine Minister begleitet von Sanktionsdrohungen losziehen, obwohl Den Haag klargemacht hatte, dass die Auftritte nicht erwünscht sind. Das dürfte zum anderen dem Wahlkampf in Holland geschuldet sein. Wenn sich Rutte nachgiebig gezeigt hätte, wäre ein Wahlsieg des Islamgegners Geert Wilders am kommenden Mittwoch wohl unvermeidlich gewesen.

Grundsätzlich sollten ausländische Politiker bei uns die Möglichkeit zum Wahlkampf haben. Grundsätzlich sollte alles versucht werden, die damit verbundenen Konflikte zu entschärfen. Wer aber so rücksichtlos und drohend auftritt wie Erdogan im Fall der Niederlande, dem muss widerstanden werden – selbst wenn sich der türkische Präsident klammheimlich über die neue Zuspitzung freuen dürfte.