Der 23. Juni 2016 produziert nur Verlierer. Großbritannien, aber auch die Europäische Union, gehen schweren Zeiten entgegen, fürchtet StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Nach dem 23. Juni 2016 ist in Europa nichts mehr wie zuvor. Der Brexit als Independence Day? Was für ein Unsinn. Als ob sich die Briten mit dem Referendum vom Joch der Sklaverei losgesagt hätten. Vielmehr ist der 23. Juni der Tag, der in Europa nur Verlierer produziert. Für die Briten selbst ist der Austritt eine Katastrophe, doch auch für den Kontinent sind die Schäden in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht noch nicht abzusehen. Mit dem Brexit macht die EU einen Schritt ins Leere.

 

Großbritannien ist nun ein zerklüftetes Land: zwischen den Jungen, die eine Zukunft in Europa sehen und den Alten, die ihr Heil im Rückzug suchen, zwischen London und dem Land sowie zwischen den Volksgruppen. Die ohnehin schon vorhandenen Zentrifugalkräfte könnten Schotten und Nordiren aus dem dann nicht mehr Vereinigten Königreich herauskatapultieren. Der Rückzug von Premierminister David Cameron ist da nur eine Randnotiz.

Die Europäische Union hat einen Volltreffer kassiert

Doch auch die Europäische Union hat nicht nur einen Schuss vor den Bug, sondern einen Volltreffer kassiert. In Europa werden die Kräfte Auftrieb bekommen, die auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Der Front National in Frankreich, die Wilders-Partei in den Niederlanden, die Separatisten in Spanien und Italien: All diejenigen, die glauben, dass Abschottung und Nationalismus die Antworten auf die Mühen und Zumutungen der Zeit sind, wittern Morgenluft. Da braucht es noch nicht einmal weitere EU-Referenden. Schon bei den regulären Wahlen etwa in Frankreich oder Deutschland im kommenden Jahr werden diese Parteien Auftrieb erhalten.

Es ist daher durchaus denkbar, dass der Ausstieg Großbritanniens eine neue Phase der Kleinstaaterei und Verzwergung Europas einläutet. Eine dringend erforderliche gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist ohne die Briten nur noch die Hälfte wert; die ohnehin schwierige Verhandlung von internationalen Handelsabkommen, die Festlegung von internationalen Standards, Terrorismusabwehr, Flüchtlingspolitik: Die großen Fragen der Zeit sind nicht national zu lösen. Europa kann seine Stimme in der Welt nur gemeinsam zu Gehör zu bringen.

Austrittsverhandlungen mit Augenmaß

Wie weiter? Zunächst einmal müssen die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien mit Augenmaß geführt werden. Die EU hat kein Interesse daran, den Briten einen so günstigen Ausstieg anzubieten, dass er anderen potenziell Abtrünnigen als Anreiz dienen kann. Doch umgekehrt besteht kein Anlass für eine Bestrafung: Niemand kann wirtschaftliche Schwierigkeiten bei einem künftigen großen Nachbarn der EU wollen.

Vor allem aber steht nun eine Debatte darüber an, welche EU wir eigentlich wollen, denn es ist ja nicht nur Cameron, der die Niederlage zu verantworten hat. Es ist die EU selbst – unter anderem durch zu viel Harmonisierung und Gleichmacherei selbst in kleinsten Fragen des täglichen Lebens, zu viel Bürokratie und zu wenig Subsidiarität, wie selbst einer der glühendsten EU-Anhänger, der frühere Erweiterungskommissar Günter Verheugen, einräumte.

Besonders Deutschland wird die pragmatischen Briten in der EU vermissen – nicht nur, weil sich der deutsche Beitrag zum Unions-Haushalt deutlich erhöhen wird, sondern auch, weil sich das Entscheidungszentrum Europas wohl nun gen Süden verschiebt. Alles wird nun auf das nicht eben in vollendeter Harmonie arbeitende Tandem Berlin-Paris ankommen. Doch nur Fantasten können glauben, dass nun, ohne die störrischen Briten, weitere Schritte der Vergemeinschaftung anstehen.

Auch am Tag nach dem britischen Referendum ist und bleibt die EU ein Garant für Frieden, Wohlstand und Stabilität. Sie wird sich nun auf ihre Grundwerte besinnen müssen. Es ist eine Tragödie, dass dies ohne Großbritannien stattfindet.