Der mutmaßliche Abschuss von MH17, bei dem mehr Menschen aus Holland als aus jeder anderen Nation ums Leben kamen, erschüttert das Selbstverständnis der Nation, kommentiert StZ-Autor Peter Riesbeck.

Brüssel - Tiefschwarz – so beschreibt Premier Mark Rutte den Riss, der sich nach der Katastrophe um Flug MH17 durch Hollands Seele zieht. Es ist der gewaltsame Tod von Unschuldigen, der das Land in diesen Tagen aufwühlt. Und es sind Bilder. Jenes Selbstportrait des jungen Paares Kaarlijn Keijzer und Laurens van der Graaff etwa, aufgenommen auf dem Weg in den Urlaub kurz vor dem Einstieg in das Flugzeug, das Stunden später über der Ukraine abgeschossen wurde. Es sind aber auch Fotos von prorussischen Truppen, die am Absturzort im ostukrainischen Grabowo mit Stofftieren posieren. Oder die Bilder von Barbiepuppen in Weizenfeldern, unversehrt, als wäre oben in der Luft überhaupt nichts geschehen.

 

Der Abschuss von Grabowo trifft die Niederlande in ihrem Selbstverständnis. Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf die Historie. Ist es Zufall oder bittere Ironie der Geschichte, dass viele der Reisenden auf dem Weg nach Indonesien waren, der ehemaligen niederländischen Kolonie? Der Verlust der Überseegebiete in Asien nach 1945 hat das Land tief getroffen.

Moralität bestimmt auch die Außenpolitik

Die Niederlande haben auf diesen territorialen Verlust mit moralischer Überlegenheit geantwortet. Nederland gidsland – Niederlande Führungsland – wurde in den Nachkriegsjahrzehnten als Devise ausgegeben. Das Land mag geschrumpft sein, in Menschenrechtsfragen, bei Freiheit und Toleranz wollte man der Welt aber nicht nur ein leuchtendes Vorbild geben. Man zeigte sich auch gewillt, diese Werte in der Welt mit durchzusetzen.

Dieser moralische Führungsanspruch ist zum einen der Boden, auf dem sich in den 60er- und 70er-Jahren die gesellschaftliche Modernisierung im Innern vollzog, mit Rechten für Schwule und Lesben, dem Abtreibungsgesetz und der Legalisierung von Sterbehilfe. Die Moralität des Politischen hat zum anderen auch die Außenpolitik des Landes bestimmt – nicht zuletzt bei Auslandseinsätzen.

MH17 zeigt: der Ukraine-Konflikt ist nicht weit weg

Es ist dieser Anspruch, der die Niederlande bewogen hat, sich mit ihren Truppen an der UN-Blauhelmmission auf dem Balkan zu beteiligen. Es ist dieser Anspruch, der in Srebrenica aber auch zweimal zerschellte. Einmal 1995, als die niederländischen UN-Soldaten das serbische Massaker an Muslimen duldeten. Das andere Mal just in der vergangenen Woche, als ein niederländisches Gericht den Angehörigen der Opfer von Srebrenica grundsätzlich das Recht auf Entschädigung zubilligte.

Das Urteil hat die Niederlande tief verunsichert im Anspruch als moralisches Führungsland. Vor dem Hintergrund des Abschusses von Grabowo erscheint es nun in einem anderen Licht. Die unschuldigen Opfer von Flug MH17 bewegen die Welt, die Bilder aus Grabowo gehen allen nah – und zeigen: der Ukraine-Konflikt ist nicht weit weg. In einer globalisierten Welt kann es kein Abseitsstehen geben. Weder in Srebrenica noch bei der aktuellen Debatte um Wirtschaftssanktionen gegen Russland.