Die These, dass der Erfolg der Grünen darauf beruht, dass sie tief ins Bürgertum eingedrungen seien, überzeugt den StZ-Redakteur Reiner Ruf nicht. Die Grünen waren immer Teil des bürgerlichen Lagers, sie wollten es nur nicht wissen.

Stuttgart - Manchmal ist sich der kluge Fritz Kuhn auch für Trivialitäten nicht zu schade.Die Grünen, so stellt er nach seinem Wahlsieg in Stuttgart fest, seien „breit ins Bürgertum eingedrungen“. Das wundert nicht weiter, die Grünen sind ihm ja auch entsprungen. Man muss nicht einmal die weite Definition des Preußischen Allgemeinen Landrechts bemühen, das dem Bürgerstand alle Einwohner des Staates zuordnete, „welche ihrer Geburt nach weder zum Adel noch zum Bauernstand gerechnet werden können“, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die Grünen immer auch und immer wesentlich eine bürgerliche Partei waren. Mochten sie sich in ihrer Geschichte gerne antibürgerlich geben, sie gehörten doch immer dazu. So gesehen ist das, was sich in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl und nun auch bei der OB-Wahl abspielte, allenfalls eine Heimkehr ins angestammte Milieu.

 

Aus Sorge um die eigene Lebenswelt

Dass die Grünen einst als Protestpartei antraten, tut diesem Befund keinen Abbruch. Bürgerlicher Protest ist so alt wie das Bürgertum; der von den Grünen strategisch genutzte Konflikt um Stuttgart 21 hat nur neuerlich offenbart, welche Wucht er entfalten kann. Schon der Widerstand gegen den Atommeiler Wyhl war kein auch nur entfernt linkes Projekt; er entsprang dem Misstrauen gegen bürokratisch abgeschottete Großtechnologien und der Sorge um die eigene, wenn man so will: kleine Lebenswelt. Saubere Umwelt, gesundes Essen, überschaubare politische Strukturen – das sind Sehnsüchte, die tief ins bürgerliche Seelenleben hineinreichen. Gerade die Grünen im Südwesten haben diesen Boden besonders sorgsam bestellt. Deshalb sind sie so erfolgreich.

Mit den kollektiv organisierten Institutionen des modernen Sozialstaats tat sich die Partei immer schwer. Das unterscheidet sie von den Sozialdemokraten, für die Fragen der Ausgestaltung der Sozialversicherung schnell zu Identitätsfragen werden. Die Grünen beschäftigten sich hingegen mit dem Genossenschaftsgedanken, sie gründeten Bürgerinitiativen und studierten den Kommunitarismus, der die Dezentralisierung staatlicher Aufgaben, direkte Demokratie und die Hilfe zur Selbsthilfe propagiert. Das war mitunter rührend naiv, im Kern aber bürgerlich. Hartz-IV-Empfänger wählen Grüne eher nicht. Dafür kennen sich diese im Zweifel mit rückstandsfreier Babynahrung aus, da muss der klassische Sozialdemokrat passen.

Politische Sinnstiftung als Kernkompetenz

Dazu gelang es den Grünen Begriffe durchzusetzen, wie dies zuvor nur Heiner Geißler oder Erhard Eppler vermochten. An der „Bürgergesellschaft“, wahlweise „Zivilgesellschaft“, kommt im Land niemand mehr vorbei. Schließlich: in Fritz Kuhn, mehr noch in Winfried Kretschmann verfügen die Grünen schon rein phänotypisch über zwei vollendete Exemplare bürgerlicher Reputierlichkeit.

Der Bürgerstand blieb beim Preußischen Allgemeinen Landrecht aus dem Jahr 1794 nicht stehen. Mit der Industrialisierung trennte sich der Bourgeois vom Citoyen, der Wirtschaftsbürger vom Staats- und Bildungsbürger. Die CDU-Ministerpräsidenten Lothar Späth und Erwin Teufel wussten noch beide Gruppen anzusprechen. Schon bei Günther Oettinger indes ging es nur noch um Standortfaktoren und Antriebsvarianten für die Automobile der Zukunft. Eminent wichtige Fragen – schon Erwin Teufel wusste: „Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.“ Wer freilich bereits zwei schadstoffreduzierte Mercedes-Limousinen in der Garage stehen hat, der sehnt sich nach mehr. Inzwischen kommt es vor, dass Kuhn seine Reden mit einem Gedicht beginnt. Politische Sinnstiftung in einer postmateriellen Gesellschaft gehört zur Kernkompetenz der Grünen. Ob sie den Wohlstand aber sichern vermögen, müssen sie noch beweisen. Denn die Geschichte zeigt auch: Bildung ist dem Bürger lieb, ein warmer Ofen aber ist ihm lieber.