Die Schotten haben sich gegen die Abspaltung entschieden – zum Nutzen Britanniens, Europas, aber auch der Schotten selbst, findet StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart/London - Schottland hat entschieden, und es hat klug entschieden. Mit am Ende dann doch nicht so kleiner Mehrheit haben sich die Schotten  für den Verbleib in Großbritannien ausgesprochen. Gesiegt hat die Vernunft über einen aufgeheizten Patriotismus, der durch die letzten Ergebnisse von Meinungsumfragen neue Nahrung erhalten hatte.

 

Allenthalben wird es als Erfolg gefeiert, wenn Grenzen fallen – nur die Schotten wollten neue errichten. Dabei ist Schottland – so wie fast alle anderen Länder auch – im Zeitalter der Internationalisierung eng angebunden an das politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in England, Europa, ja im Rest der Welt. Eine Trennung wäre vor diesem Hintergrund ein Anachronismus gewesen, geschuldet einem überholten Nationalismus. 307 Jahre hat der Verbund mit dem Rest Britanniens im Großen und Ganzen gut funktioniert – und es gab keinen nachvollziehbaren Grund, warum das in der Zukunft nicht auch hätte gelten sollen. In Schottland  gilt es nun,  die tiefen Gräben zwischen der Yes- und der No-Fraktion wieder zuzuschütten, was trotz des beispielhaft friedlichen Ablaufs des Referendums viele Jahre dauern kann.

Und was bleibt?

Auch wenn die ganz große Zäsur vermieden wurde, sendet das Referendum in Schottland vor allem ein Signal nach London und Europa: Das  Streben nach Unabhängigkeit zahlt sich aus. Die Zugeständnisse politischer und wirtschaftlicher Art, die der zunehmend kopflos  agierende britische Premierminister David Cameron den Schotten angesichts seiner drohenden Niederlage machte, sagen Walisern und Nordiren, aber auch Katalanen und Südtirolern: wer die Auseinandersetzung mit der Zentralregierung sucht, der wird früher oder später belohnt werden – entweder mit der Unabhängigkeit oder zumindest mit einem wie auch immer gearteten Ausgleich.

Das jedoch wäre fatal für einen Kontinent, einen Staatenbund, der den Anspruch haben muss, wirtschaftlich und politisch in einer Liga mit den USA oder China zu spielen, in dem aber gleichzeitig die Fliehkräfte zuzunehmen scheinen. Schon heute ist das Europa der 28 nicht in der Lage, einheitliche Positionen zu Russland, Syrien oder dem islamistischen Terror zu formulieren. Die ganze Welt  droht in einer Reihe immer vertrackterer Krisen zu explodieren, womöglich steht ein neuer Kalter Krieg vor der Tür – und Europa debattiert über die Unabhängigkeit von fünf Millionen Schotten und 500 000 Südtirolern!

Union braucht eine positive Vision

Und nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich ist Einigkeit gefordert. Die EU ist der weltgrößte Binnenmarkt, an dem Millionen von Arbeitsplätzen hängen.  Wenn es um die Durchsetzung von Interessen gegenüber globalen Konzernen oder das Setzen internationaler Normen  geht, sind einzelne Nationalstaaten oft überfordert.  Entweder kann Brüssel  in diesen Fällen mit der Unterstützung seiner Mitglieder rechnen, oder die Spielregeln werden außerhalb Europas aufgestellt.

Daher muss es den europäischen Nationalstaaten gelingen,   einerseits regionale Besonderheiten zu wahren und für einen fairen Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Volksgruppen zu sorgen. Andererseits darf dabei die Konsens-  und Durchsetzungsfähigkeit der Europäischen Union nicht gefährdet werden.

Vor allem aber braucht die Union eine positive Vision. In Großbritannien und in ganz Europa müssen die Politiker überzeugend darlegen, warum in der Gemeinschaft die Stärke liegt und welchen Nutzen jeder Bürger aus dem Zusammenschluss zieht. Damit hat David Cameron viel zu spät begonnen. Seine Politik setzte in Schottland  vor allem auf  Untergangsszenarien und Warnungen vor möglichen üblen Konsequenzen einer Abspaltung. Zuversicht kann so nicht entstehen.

Die Nacht der Entscheidung können Sie in unserem Newsblog Revue passieren lassen!