Die Gewerkschafter erleben eine Renaissance, meint StZ-Autor Matthias Schiermeyer. Zur zentralen Kundgebung treffen sie sich in Stuttgart.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der 1. Mai hat als Tag der Arbeit viele Höhen und Tiefen durchgemacht. Wen würde es also wundern, wenn er mittlerweile in Tag der Freizeit umbenannt worden wäre? In diesem Jahr beschert er vielen Beschäftigten wegen des Brückentages einen sonnigen Kurzurlaub. Als Kampftag der Arbeiterbewegung begreift den 1. Mai fast niemand mehr.

 

Allen angestaubten Traditionen zum Trotz: für die Gewerkschaften hat das Datum seine Symbolkraft nicht verloren. Der IG Metall bietet er diesmal die Gelegenheit, ihre mehrwöchige Warnstreikserie mit Fanfarenstößen einzuleiten. Die Metaller gehen in der Tarifrunde so selbstbewusst voran, wie es die Industrie seit langer Zeit nicht mehr erlebt hat. Und nachdem Verdi im öffentlichen Dienst einen hohen Lohnabschluss durchgesetzt hat, drückt die Dienstleistungsgewerkschaft auch in anderen Branchen aufs Gaspedal. Wo immer sie dazu in der Lage sind, suchen sie nun ihr Heil in der Offensive.

Früher als Betonköpfe beschimpft – heute unentbehrlich

Ermutigt sehen sich die Arbeitnehmervertreter durch den Vertrauensgewinn in Politik und Bevölkerung. Wurden sie noch zu Beginn des Jahrtausends allseits als rückwärtsgewandte Betonköpfe hingestellt, gelten sie heute als unentbehrlich. So zeigt eine Allensbach-Umfrage, dass 41 Prozent der Bürger eine gute Meinung von den Gewerkschaften haben – neun Jahre zuvor waren es 23 Prozent. Andere Erhebungen fallen sogar noch positiver aus.

Dieser Trend spiegelt sich in den Mitgliederzahlen. Die IG Metall hat erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder einen absoluten Zuwachs erreicht. Solidarität – auch diese Botschaft sendet der 1. Mai aus – ist nicht völlig aus der Mode gekommen. Vor allem junge Beschäftigte lassen sich wieder für die gemeinsame Sache einspannen, wenn man sie nur zeitgemäß anspricht.

Großer Einfluss auf Merkels Politik

Selbst der Einfluss auf die Regierenden ist unverkennbar: Merkels Politik wird immer sozialdemokratischer, weil Sommer, Huber, Bsirske & Co. mit ihren Forderungen in der Bevölkerung zunehmenden Anklang finden. Dass die Union jetzt einen allgemeinen Mindestlohn auf den Weg bringen will, geht vor allem auf den Einsatz der Gewerkschaften zurück. Den nötigen Respekt haben sie sich ausgerechnet mit einem besonnenen und kooperativen Handeln in der Wirtschaftskrise verschafft. Nun aber fürchten die Arbeitgeber, dass die Arbeitnehmervertreter den Konsens zunichtemachen und das sogenannte deutsche Beschäftigungswunder gefährden könnten.

So tritt das Dilemma der Gewerkschaften immer offener zu Tage: Einerseits sind sie aufgrund der klugen Betriebspolitik mitverantwortlich für die Spitzenstellung der Industrie – andererseits können sie der Atomisierung des Arbeitsmarktes mit immer mehr Leiharbeit und Werkverträgen, mit Minijobs und befristeter Beschäftigung, mit Scheinselbstständigkeit und willkürlichen Arbeitszeitmodellen wenig entgegensetzen. Wo sie nichts zu melden haben, dreht sich die Lohnspirale nach unten.

Der Preis des Erfolgs

Das ganze Tarifsystem steht auf dem Spiel – ist das der unvermeidliche Preis des Erfolgs? Plötzlich sehen sich die Gewerkschaften unter Druck, das Ruder mit Macht herumzureißen. Die Ära der Deregulierung sei zu Ende, verkündet DGB-Chef Michael Sommer. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Es ist zum Beispiel kaum vorstellbar, dass der radikale Abbau der Arbeitnehmerstandards in Südeuropa ohne Auswirkungen auf andere EU-Staaten bleibt. Den Gewerkschaften gelingt in ihrem nationalstaatlichen Denken weder eine grenzübergreifende Zusammenarbeit noch eine Mobilisierung für die Anliegen der Südeuropäer.

Wie leicht haben es dagegen die populistischen Parteien, die überall in Europa die Massen anlocken. So schlicht können die Gewerkschaften nicht agieren. Um für alle Arbeitnehmer die Dinge zum Guten zu wenden, braucht es viel mehr als vollmundige Reden auf den 1.-Mai-Kundgebungen.