Der deutsch-deutsche Einigungsprozess seit dem 3. Oktober 1990 ist ein Erfolg. Nun geht es um unsere Zukunft in Europa, kommentiert der StZ-Politikchef Rainer Pörtner anlässlich des Tags der Deutschen Einheit.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Die Festrede zum Tag der Deutschen Einheit wird am Donnerstag ein Bundespräsident namens Joachim Gauck halten – einst Pfarrer in Rostock. In der Stuttgarter Liederhalle wird vor ihm in der ersten Reihe eine Bundeskanzlerin namens Angela Merkel sitzen – aufgewachsen in Templin. Zwei ehemalige DDR-Bürger stehen an diesem Tag, genau 23 Jahre nach der Wiedervereinigung, zwei der fünf Verfassungsorgane der Bundesrepublik vor.

 

Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Tatsache ist, dass es von den wenigsten Deutschen noch für bemerkenswert gehalten wird. Unabhängig von eigener regionaler Herkunft oder parteipolitischer Neigung sehen die Bürger in Gauck und Merkel uneingeschränkt das Staatsoberhaupt und die Kanzlerin aller Deutschen.

Gauck und Merkel haben viele Jahre unter einem sozialistischen Regime gelebt. Beide empfanden als glückliche Wendung der Geschichte, dass 1989 die Mauer fiel und anschließend die DDR implodierte. Sie beide verkörpern, sicher auf unterschiedliche Weise, das Gelungene des Einheitsprozesses: das Überwinden einer unnatürlichen staatlichen Teilung, die Ablösung eines diktatorischen Zwangssystems durch eine freiheitliche Demokratie und die Aufstiegschancen einer offenen Gesellschaft. Sie gehören zu den Gewinnern der Einheit.

Es gab Ungerechtigkeiten, es gab Verlierer

Am 3. Oktober 1990 um 0.00 Uhr wurde vor dem Berliner Reichstag die Bundesflagge gehisst, vom Schöneberger Rathaus klang das Läuten der Freiheitsglocke herüber. Das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands in den nachfolgenden Jahren hat für praktisch alle Menschen in der ehemaligen DDR eine völlige Umwälzung ihrer bisher gelebten Leben bedeutet. Es kam zu Ungerechtigkeiten, es gab Verlierer. Vieles dauerte länger als anfangs erwartet – und die Arbeit ist nicht beendet. Bis heute gibt es ökonomisch gravierende Gefälle zwischen West und Ost – sei es bei den Löhnen, bei den Arbeitslosenzahlen oder bei der Verteilung des Vermögens.

Dennoch darf der deutsche Einheitsprozess als gelungen bezeichnet werden – auch dank starker finanzieller und personeller Unterstützung der neuen Bundesländer durch die alten. 23 Jahre nach der Wiedervereinigung wird das, was früher DDR war, immer weniger als „Osten“ wahrgenommen. Die Unterschiede zwischen Sachsen, Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern fallen zunehmend stärker ins Gewicht als ihre Gemeinsamkeiten. So empfinden nicht zuletzt die Menschen selbst, die in den neuen Bundesländern leben. Es gibt also Gründe genug zu gesamtdeutscher Freude und Anlass genug, den Einheitstag in Stuttgart fröhlich zu feiern.

Eine Rarität der Weltgeschichte

„Wir sind das Volk“, riefen die Revolutionäre in der DDR. „Wir sind ein Volk“, hieß es wenige Monate später. Aus einer Revolte gegen eine Regierung wurde eine Volksbewegung, die am Ende im Beitritt zur Bundesrepublik endete. Eine solche friedliche Wiedervereinigung ist eine Rarität in der Weltgeschichte. Sie ist sogar einzigartig, weil die Deutschen im selben Moment, in dem sie zu einer Nation zusammenfanden, genau diese Nation infrage stellten zu Gunsten eines ganz anderen, transnationalen Gebildes: Europa.

Würde man heute im Osten Deutschlands nach dem bedeutendsten Datum des letzten Vierteljahrhunderts fragen, würde möglicherweise die Mehrheit den 9. November 1989 nennen – den Tag der Maueröffnung. Ebenso möglich ist, dass im Westen des Landes auf dieselbe Frage auch nicht der 3. Oktober 1990 genannt würde, sondern der 1. Januar 2002: der Tag, an dem die Deutschen die ersten Euroscheine in der Hand hielten.

Die deutsche Frage darf heute als auf gute Weise beantwortet gelten. Die europäische Frage aber ist es noch nicht. Es ist die eigentlich drängende Frage, auf die gerade auch Gauck und Merkel überzeugende Antworten geben müssen.