Was ist so falsch an Merkels Kehrtwende in der Atompolitik, fragt Kommentator Armin Käfer. Die Wende ist vernünftig  – aber nicht glaubwürdig.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Das Modell Merkel könnte noch zum Exportschlager werden. Auch China verordnet sich jetzt eine Denkpause beim künftigen Ausbau der Atomwirtschaft. Ausgerechnet China: die weltweit größte Volkswirtschaft wollte den Energiehunger ihrer rasant wachsenden Industrie vor allem mit Atomstrom stillen. Das Reich der Mitte diente allen als Musterbeispiel, welche die in Deutschland kultivierte Atomangst für aberwitzig und weltfremd halten.

 

Nun werden die Pläne für 50 neue Kernkraftwerke erst einmal auf Eis gelegt, die Sicherheitsstandards überprüft. Diese Konsequenz zog Peking, das sich ansonsten um ökologische Bedenken wenig schert, am Tag eins, nachdem die deutsche Kanzlerin eine Revision ihrer bisherigen Atompolitik verkündet hatte.

Atomskeptiker werden die Reaktion der Chinesen auf die Nuklearkatastrophe in Japan beifällig und erleichtert aufnehmen. Und was ist so falsch an Merkels Kehrtwende? Mit reflexhaften Antworten, an denen kein Mangel herrscht, ist keinem gedient. Um das Krisenmanagement der Regierung seriös zu beurteilen, ist es notwendig, die eigentlichen Maßnahmen zu unterscheiden von den Motiven, die Merkel & Co. wohl antreiben, ihren längerfristigen Absichten, über die sich nur spekulieren lässt, juristischen Untiefen und allem, was bisher diskutiert und entschieden wurde.

Bundesregierung in atomarem Notstand

Deutschland liegt außerhalb der Reichweite des nuklearen Fallouts von Fukushima. Doch die apokalyptischen Bilder von Wasserstoffexplosionen, brennenden Reaktoren und radioaktiv verseuchten Menschen haben die schwarz-gelbe Bundesregierung in eine Art atomaren Notstand versetzt. Schließlich hatte sie erst vor wenigen Monaten beschlossen, das Atomzeitalter noch einmal zu verlängern.

Die Kanzlerin regierte in dieser Frage gegen die Bedenken, Vorbehalte und Widerstände eines Großteils der Bevölkerung an. Die Verunsicherung wächst durch den GAU ins Unermessliche. Das war von jeher das politische Restrisiko der Verlängerungsstrategie.

Merkels Notstand

Merkel hat rasch und radikal reagiert - schneller als jede andere Regierung. Ihre Entscheidung, alle alten Atomkraftwerke erst einmal abzuschalten, sämtliche Meiler einer grundlegenden Sicherheitskontrolle zu unterziehen und die eigenen atompolitischen Beschlüsse noch einmal zu überdenken, verdient Respekt. Das Vorgehen als solches ist vernünftig und der Ausnahmesituation angemessen.

Merkel nimmt dabei keinerlei Rücksichten - weder auf die Interessen der Strombranche noch auf ihre atomfreundlich gestimmte Koalition oder ihrem eigenen Reden von vorgestern. Verantwortungsethik hat der Soziologe Max Weber das einmal genannt. Von einer Kanzlerin dürfen wir dies erwarten. Sie ist gerade in existenziellen Fragen allein ihrem Amtseid verpflichtet, mit dem sie gelobt hat, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden.

Wahltaktische Erwägungen spielen eine Rolle

Gewiss haben auch wahltaktische Erwägungen Merkels Entscheidungsfreude befeuert. Aber ist das Vorgehen an sich deshalb verkehrt? Natürlich gibt es viele Ungereimtheiten. Was jetzt in aller Eile passiert, war längst überfällig. Die Reaktoren hätten überprüft, die Sicherheitsauflagen hätten verschärft werden müssen, bevor die Entscheidung fiel, deren Betriebsdauer zu verlängern. Merkel setzt sich dem Verdacht aus, fahrlässig gehandelt zu haben. Sie demontiert ihre eigene Glaubwürdigkeit.

Unlängst hatte sie noch behauptet, die Atomkraftwerke sollten nur so lange am Netz bleiben, wie dies unbedingt nötig sei. Jetzt klemmt sie sieben davon kurzerhand ab. Vor diesem Hintergrund erscheint ihre bisherige Atompolitik nachgerade beliebig. Damit nährt sie selbst Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Was die Bürger von ihrer Volte und dem vermeintlichen Umdenken halten, wird sich demnächst erweisen. Entscheidend ist aber, wie sich Merkel verhalten wird, wenn das Atommoratorium abläuft. Ein Zurück gibt es nicht.