Die zahllosen Kriege haben weltweit mehr als 50 Millionen Menschen in die Flucht getrieben – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Für sie muss mehr getan werden, auch in Europa, meint der StZ-Redakteur Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Die Mahnung erscheint wie eine Binsenweisheit, ist aber aktueller denn je: Frieden und Wohlstand sind nicht zum Nulltarif zu haben. Sicherheit und Reichtum der Gesellschaft werden gerne als Selbstverständlichkeiten hingenommen. Doch zeigt sich immer klarer, dass Mitteleuropa von den Verteilungskämpfen im Nahen Osten oder in Afrika nicht unberührt bleibt. Noch leisten wir uns kleinliche, fast unbarmherzige Debatten über die Aufnahme von Asylbewerbern, während die Flüchtlingsmisere ihren Lauf nimmt. Die Neigung, die Notleidenden wenigstens ein bisschen am Wohlstand teilhaben zu lassen – sei es in den Krisenregionen, sei es hierzulande –, ist gering. Die Politik tut bis jetzt wenig, um das Verständnis für die Hilfesuchenden zu vergrößern.

 

Die Diskrepanzen sind riesig: 200 000 Asylbewerber werden in diesem Jahr in Deutschland erwartet, was vielerorts Unruhe auslöst. Derweil sind schon 1,5 Millionen Syrer in die Türkei geflohen. Allein in den vergangenen Tagen haben mehr als 150 000 Kurden jenseits der Grenze Schutz vor den Terrorbanden des Islamischen Staates gesucht. Städte verdoppeln dort ihre Einwohnerzahl. Weltweit sind sogar über 50 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Der westlichen Staatengemeinschaft gelingt es nicht, die Konfliktherde einzudämmen. Im Gegenteil: es brechen immer neue Krisen aus, die weitere Vertreibungen und Opfer nach sich ziehen.

Die EU-Staaten schieben sich die Schuld zu

Immer lauter erschallt die Klage aus den überfüllten Regionen und Ländern, dass sie sich von den Industriestaaten im Stich gelassen fühlen. In der Tat herrscht ein Mangel an Solidarität – auch innerhalb Europas. Anstatt an einem Strang zu ziehen, schieben sich die EU-Staaten lieber die Schuld für die ungleiche Belastung durch die Notleidenden zu. Muss man nicht Verständnis haben für die Italiener, die mit Tricks dafür sorgen, dass die Flüchtlinge rasch gen Norden weiterziehen?

Das Aufnahmeverfahren, wonach das EU-Land, das ein Flüchtling zuerst betritt, für die Unterbringung und das Asylverfahren zuständig ist, ist gescheitert. Es benachteiligt die Staaten am Rande. Es kann auch nicht sein, dass fünf EU-Länder drei Viertel aller Asylgesuche bearbeiten müssen. Feste Kontingente, wie von Bundesinnenminister de Maizière angeregt, könnten mehr Klarheit und Gerechtigkeit in das Geschacher bringen. Gleichzeitig sollte die Seenotrettung im Mittelmeer eher noch verstärkt statt zurückgefahren werden.

Innenpolitisch ist mehr Mut gefragt

Der Exodus aus Syrien hält seit Jahren an. Nach dem Irak droht in Jordanien und im Libanon der Zusammenbruch staatlicher Strukturen. Doch erst die Belastung des Nato-Partners Türkei durch kurdische Flüchtlinge bringt Bewegung in die Debatte. Für Ende Oktober plant die Bundesregierung eine internationale Konferenz unter Beteiligung betroffener Staaten. Das ist sinnvoll, wenn sie in konkretes Handeln mündet. Sinnvoll wäre daher ein Signal der Bundesregierung im Vorfeld der Konferenz, dass sie bereit ist, deutlich mehr als die geplanten 20 000 Syrer aufzunehmen.

Es gibt keine einfachen Rezepte zur Begrenzung des Flüchtlingselends. Innenpolitisch ist mehr Mut gefragt, eine Aufnahmebereitschaft in der Gesellschaft zu erzeugen. Wer wie de Maizière polemisiert, Deutschland könne nicht alle Mühseligen und Beladenen auf der Welt aufnehmen, schürt Ressentiments und wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Außenpolitisch braucht es mehr Ge- und Entschlossenheit. Dazu gehören der Dialog mit den Krisenstaaten und eine klare Kante gegenüber den heimlichen Unterstützern von Terror und Menschenschleuserei. Gefragt ist eine umfassende Strategie. Einen Preis für Frieden und Wohlstand werden die Europäer auf jeden Fall zahlen müssen. Die Frage wird nur sein, wie viel Konfliktstoff diese Entwicklung noch mit sich bringt.

Die folgende interaktive Grafik zeigt alle Flüchtlingsheime in Stuttgart mit mehr als 20 Bewohnern: