Das Ergebnis der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 lockert die Fronten in der Landespolitik wieder auf. Ein Kommentar von Reiner Ruf.

Stuttgart - Nur acht Monate nach dem Beben der Landtagswahl vom 27. März ist die politische Landschaft in Baden-Württemberg erneut in Bewegung geraten. Nicht dass die grün-rote Landesregierung nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 vor dem Zusammenbruch stünde. Im Gegenteil, wenn beide Regierungsparteien die richtigen Schlüsse ziehen , dann gewinnen Grüne und SPD jetzt den Freiraum, ihre Politik in der ganzen Breite zur Entfaltung zu bringen. Denn die Verengung der politischen Auseinandersetzung auf den Bahnhofsstreit hatte nicht nur innerkoalitionär fast alle Kräfte beansprucht - mit zum Teil fast schon grotesken Zügen.

 

Kaum näherte sich der bekennende Stuttgart-21-Befürworter Claus Schmiedel (SPD) einem Mikrofon, wurde im Staatsministerium schon "Schmiedel-Alarm" ausgerufen. Umgekehrt feilten die SPD-Strategen panisch an Dementis, sobald Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) auch nur im Umkreis der Schreibkladde eines Journalisten gesichtet wurde. Dies band Energien, die künftig sinnvollen Zwecken zugeführt werden können.

Die lange, bittere und nicht nur, aber auch von Finessen und unlauteren Tricks geprägte Vorgeschichte von Stuttgart 21 hat den Bahnhofsstreit über das der Politik innewohnende Prinzip der Gegnerschaft in die Nähe der unversöhnlichen Feindschaft gleiten lassen. Das galt für die von den Grünen beschworene Zivilgesellschaft, das traf aber auch in etwas gedämpfterer Form auf die Landespolitik zu, in der auf absehbare Zeit alle schwarz-grünen Gedankenspiele erledigt schienen. Die neue Offenheit in der Diskussion über eine Absenkung des Zustimmungsquorums bei Volksabstimmungen gibt immerhin einen Fingerzeig, dass sich die Zeit des Festhaltens an Maximalpositionen dem Ende entgegenneigt.

Die CDU hat ihre Mobilisierungskraft bewiesen

Die Grünen mussten am Sonntagabend lernen, dass nicht alles, was sie anfassen, zu Gold wird. Wunder könne man nicht bestellen, räumt Regierungschef Winfried Kretschmann ein. Diese Erkenntnis bietet einen guten Ansatz für eine vernünftige Politik, weil zu viel Metaphysik die Sinne vernebelt, so wie umgekehrt zu viel Technokratentum die Frage nach dem Sinn herausfordert. Pragmatismus und Grundsatztreue - beides müssen die Grünen verbinden, wollen sie im Südwesten auf einem Zustimmungniveau bleiben, das nach Auskunft diverser Umfragen fast doppelt so hoch liegt wie im Bund. Ein Absturz, wie er der FDP nach der Bundestagswahl widerfuhr, ist aber nicht zu erwarten. Doch Grün pur führt nicht zum Erfolg.

Es bedarf einer verantwortungsvollen Regierungspolitik mit klarer Richtung, jedoch ohne dogmatische Festlegung. Der Hinweis des Ministerpräsidenten, mit der Volksabstimmung einen Aufbruch zu mehr Demokratie organisiert zu haben, wirkt ein wenig überhöht. Ohnehin stammt die Idee von der SPD, die sich nun zwar bestätigt sehen kann, aufgrund ihrer Zerstrittenheit aber als Faktor im Abstimmungskampf weitgehend ausfiel.

Dafür hat die CDU ihre Mobilisierungskraft bewiesen - trotz der in der Partei wabernden Unzufriedenheit über die eigene Führung, trotz der Lähmung in der Opposition und trotz der Nachwehen der kurzen, aber für die CDU unheilvollen Episode des Regierungschefs Stefan Mappus. Ohne die CDU-Leute auf den Marktplätzen wäre von den Stuttgart-21-Befürwortern so gut wie nichts zu sehen gewesen. Die Partei hat nun zwei Möglichkeiten. Entweder sie erklärt die Landtagswahl zum Betriebsunfall - und erliegt der alten Autosuggestion vom naturgegebenen Anrecht auf die Macht. Das wäre die einfache Lösung, die jedoch den Verbleib in der Opposition sicherstellte. CDU pur ist ja auch schon gescheitert. Oder sie öffnet sich dem Wunsch nach mehr demokratischer Teilhabe der Gesellschaft. Dann ginge die CDU gestärkt aus dem Beben vom Sonntag hervor.