Stuttgart hat seine neue Bibliothek am Mailänder Platz eingeweiht. Das ist ein guter Grund zum Feiern, meint StZ-Redakteurin Julia Schröder.  

Stuttgart - Was lange währt, wird endlich gut, behauptet ein Sprichwort. Wäre die Welt so einfach, hätte man sich um die neue Bibliothek für Stuttgart niemals Sorgen machen müssen. Vierzehn Jahre Planungs- und Bauzeit bis zur Eröffnung - da konnte doch nichts schiefgehen.

Aber so einfach ist es nicht. Seitdem der Gemeinderat der Landeshauptstadt es gewagt hatte, sich zu entschließen, das Konzept der damaligen Bibliotheksdirektorin Hannelore Jouly und den Entwurf des koreanischen Architekten Eun Young Yi umzusetzen, es damit den meisten anderen deutschen Großstädten nachzutun und eine moderne Bücherei zu bauen, hat sich die Welt gründlich verändert: Das Projekt Stuttgart 21, mit dem das Geschick des Bibliotheksneubaus stadtplanerisch eng verknüpft ist, hat sich nicht ganz zu dem Publikumsrenner entwickelt, den seine Erfinder sich erhofft hatten. Der Architekturgeschmack sieht anders aus als in den Neunzigern. Vor allem aber wird der Ansehensverfall des Buchs zurzeit so heftig beschworen, dass man fast fragen mag: Braucht es in Zeiten von Internet und E-Book wirklich noch eine knapp 80 Millionen Euro teure Ausleihstation für tote Bäume?

 

Mehr als zwei Millionen Besucher pro Jahr

Man könnte jetzt die ästhetischen Qualitäten und das Raumerlebnis rühmen, die der Würfel am Mailänder Platz der Stadt beschert, man könnte von der Dachterrasse schwärmen oder auf die erhoffte Ausstrahlung des neuen Baus auf das von Investorenarchitektur dominierte Quartier verweisen. Man könnte aber auch einfach die großen und kleinen Nutzer zur Kenntnis nehmen, die der Stadtbücherei Stuttgart und ihren Filialen in den Stadtteilen schon bisher zu einer jährlichen Besucherzahl von mehr als zwei Millionen verhelfen, und die halbe Million Zugriffe, die die virtuelle Stadtbücherei pro Jahr verzeichnet.

Die neue Stadtbibliothek ist nämlich ebenso wenig eine Papierverteilstelle, wie es die alte Stadtbücherei im Wilhelmspalais war. Eine Bibliothek ist nicht hauptsächlich Buchmuseum, sondern Wissensspeicher und Lernort. So ist es seit Jahrtausenden, und dies gilt auch in unserer neuen digitalen Unübersichtlichkeit. Die Bibliothekschefin Ingrid Bussmann hat das zukunftweisende Konzept ihrer Vorgängerin zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen ebenso klug wie konsequent weiterentwickelt.

Was erst nach und nach ins allgemeine Bewusstsein dringt, hat sie schon bei der Einrichtung ihres neuen Hauses berücksichtigt: dass nicht nur für die jüngere Generation die Grenzen zwischen "realer" und "virtueller" Welt durchlässig werden, dass das, was im Internet diskutiert wird, sich auf das wirkliche Leben auswirkt, und andersherum auch der verständige Umgang mit digitalen Angeboten konkrete Orte und die Anleitung durch echte Menschen nötig hat.

Ein Haus für unsere Zeit

Die neue Stadtbibliothek Stuttgart ist in mancherlei Hinsicht ein Haus für unsere Zeit. Sie lädt zu stillem Studium wie zu lebhaften Workshops und inspirierenden Wissenscafés, zum Surfen mit dem zur Verfügung gestellten Netbook wie zu Dichterlesungen ein. Sie leiht wertvolle Grafiken, schöne Musik-CDs und aufwendig gemachte Bilderbücher ebenso wie E-Books aus. Sie öffnet Fenster zum Wissen für alle und leistet damit - in mehreren Fremdsprachen - ihren oft unterschätzten Beitrag zur gesellschaftlichen Integration. Sie begleitet die Stuttgarter Literaturszene, stellt Künstler aus dem Land aus und ermöglicht Diskussionen zur Zukunft des Gemeinwesens. Und das Gemeinwesen, das Zusammenleben in dieser Stadt ist es, was von dem neuen Treffpunkt am Mailänder Platz am meisten profitieren kann.

Wir, die Stuttgarter Bürger, müssen dieses Geschenk, das wir uns selber machen, nur noch annehmen. Wir sind eingeladen, den Würfel zu erobern. Und sei es, um wieder einmal zu erfahren, dass unsere Welt viel abenteuerlicher ist, als Sprichwörter uns weismachen wollen.

Erfahren Sie mehr über die neue Bibliothek in unserem Online-Spezialbereich.