Britische und amerikanische Geheimdienste betrachten das Internet als nichts anderes als einen Tummelplatz gefährlicher Gegner. Ihr Abhörwahn untergräbt jedes Vertrauen ins Netz, kommentiert StZ-Redakteur Rainer Klüting.

Stuttgart - Seit Wochen erfahren wir aus den Unterlagen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen. Es mag sein, dass mancher die Meldungen schon gar nicht mehr lesen mag. Das aber wäre ein Fehler. Die neuesten Meldungen sind nämlich mehr als ein weiteres Detail. Sie sind der Beleg dafür, dass die Sicherheitsdienste der USA und Großbritanniens das weltweite Internet als nichts anderes betrachten als einen Tummelplatz von gefährlichen Gegnern und dass sie für den Kampf gegen diese Gegner absurderweise nicht davor zurückschrecken, die höchst lukrative Internetwirtschaft der eigenen Länder zu nötigen und zu gefährden. Der amerikanische Kryptografieexperte Bruce Schneier sagt es drastisch: „Die US-Regierung hat das Internet verraten. Wir müssen es uns zurückholen.“

 

Nach übereinstimmenden Berichten der „New York Times“, des britischen „Guardian“ und des Internetportals „Pro Publica“ können die Sicherheitsdienste auch große Teile des verschlüsselten Internetverkehrs mitlesen. Das betrifft nicht so sehr Sicherheitsbewusste, die ihre E-Mails verschlüsseln, denn die dafür genutzten Verfahren scheinen nach wie vor sicher zu sein. Nein, es betrifft jeden, der über das Internet einkauft, seine Konten verwaltet, sein E-Mail-Passwort eintippt oder andere Dienste nutzt, die in der Adresszeile des Browsers durch ein „https“ und das Symbol eines Sicherheitsschlosses kenntlich sind. Es betrifft auch Firmen, die im internen Verkehr vertrauliche Daten über ein „Virtual Private Network“ (VPN) übertragen.

Keine Bank kann mehr sicheren Geldverkehr garantieren

Diese und weitere Sicherheitsprotokolle können die NSA und der britische GCHQ mitlesen. Zum Teil haben sie die Verfahren geknackt. Zum Teil haben sie Hersteller von Hard- und Software zum Einbau von Hintertüren gezwungen oder überredet. Zum Teil dringen sie heimlich in Computer ein, über die die Daten übertragen werden. Erfahrungen zeigen: Hintertüren werden irgendwann entdeckt – und nicht immer von wohlmeinenden Menschen. Dank NSA und GCHQ kann mithin keine Bank und kein Internethändler mehr einen sicheren Geldverkehr garantieren.

Bruce Schneier will das Internet zurückholen, aber das Patentrezept hat er nicht. Er ruft die Bürger auf, ihre Kommunikation zu verschlüsseln, es den Schnüfflern so schwer wie möglich zu machen. Er ruft Ingenieure auf, Zumutungen von Sicherheitsdiensten zu veröffentlichen. Er will staatlichen und kommerziellen Einfluss auf die Internet-Infrastruktur zurückdrängen. Doch das löst das Problem nicht. Solange demokratisch verfasste Staaten eine komplette Infrastruktur wie das Internet der Suche nach Gangstern und Terroristen unterordnen, wäre es kein Wunder, wenn auf diesem Marktplatz der Experimente manche gute Idee künftig am Misstrauen potenzieller Kunden scheitern würde. Handel und Wirtschaft funktionieren auch im Internet nicht ohne eine Vertrauensbasis. Diese zu sichern war bisher immer die Aufgabe staatlicher Autorität.