Es ist ein Ereignis von Weltformat: die Stuttgarter Staatsgalerie zeigt Oskar Schlemmers Werke unter dem Titel „Visionen einer neuen Welt“. Die Schau kann Maßstäbe setzen, meint der StZ-Kulturressortleiter Tim Schleider.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Schlemmerwochen in der Stuttgarter Staatsgalerie! O je – die Puristen unter den Kulturfreunden mögen uns diesen Kalauer zum Auftakt bitte verzeihen. Man verbuche die Blödelei einfach als Ausdruck der Vorfreude auf eine Ausstellung, die von heute an bis zum 6. April vermutlich Kunstfreunde aus der ganzen Welt anlocken wird: „Visionen einer neuen Welt“ lautet der Titel einer Schau, die das Werk des Bauhaus-Meisters Oskar Schlemmer nach Jahrzehnten der Zwangspause erstmals wieder umfassend präsentiert.

 

Ein heftiger Streit unter den Erben hatte dazu geführt, dass die Museen dieser Welt lieber die Finger von Schlemmer-Projekten und die Kunstwerke am besten gleich ganz im Depot ließen – zu groß war die Gefahr, dass sonst Gerichtsverfahren drohten. Selbst die bloßen Abbildungen der Objekte in einigen Katalogen wurden präventiv geschwärzt. Doch inzwischen sind die Urheberrechte des Künstlers siebzig Jahre nach dessen Tod erloschen. Und bei der Frage, welches Museum nach diesem Stichtag das Privileg einer ersten neuen Sicht auf das Gesamtwerk genießen würde, hatte die Stadt Stuttgart die Nase vorn: Herkunft und erste Wirkungsstätte eines Denkers und Gestalters, dessen Bilder, Figuren, Ideen große Ausstrahlung hatten.

Ist noch visionäre Kraft zu spüren?

Aus mindestens drei Gründen darf man auf die Schlemmer-Ausstellung gespannt sein. Der erste lautet „Bauhaus“. Neben Walter Gropius, Lyonel Feininger, Paul Klee und Wassily Kandinsky gehört Oskar Schlemmer zu den großen Namen dieser fortschrittlichen, ja visionären Hochschule für Gestaltung, die 1919 in Weimar gegründet wurde, um vor den steten Anfeindungen der politischen Rechten erst nach Dessau, dann nach Berlin zu weichen. Der Versuch, Kunst und Alltag eng zu verbinden und mit den Mitteln spielerischer, Grenzen sprengender Kreativität gemeinsam zu verändern, nicht zuletzt auch politisch, hat starke Resonanz weit über deutsche Grenzen hinaus gefunden. Ob uns all das am Beispiel Schlemmers heute nur noch historisch vorkommt oder ob hier, wie der Ausstellungstitel ja auch meinen könnte, heute noch visionäre Kraft zu spüren ist, wird in den nächsten Wochen zu erkunden sein.

Die Staatsgalerie meldet sich zurück

Wenn man nun diesen gesellschaftlichen Anspruch des Bauhauses als Ausdruck einer fortschrittlichen Haltung der Moderne ansieht, dann sind wir prompt beim zweiten Grund für unsere Ausstellungsvorfreude: Stuttgart. Der Anteil dieser Stadt am künstlerischen und gesellschaftlichen Erbe der Moderne ist im öffentlichen Wissen viel weniger verankert, als sie es verdient. Oskar Schlemmer hat anderswo gewirkt, aber die prägenden Jahre seiner Ausbildung waren an der hiesigen Kunstakademie und im hiesigen Freundeskreis. Die ersten Skizzen zum „Triadischen Ballett“ mit seinen ebenso witzigen wie tiefsinnigen Formen und Kostümen, mit seinem Feiern von Bewegung und Dynamik sind in Stuttgart entstanden. Forschen wir doch mal, wie viel schwäbisches Querdenkertum beispielsweise in jenem berühmten Bild namens „Bauhaustreppe“ steckt, welches normalerweise just das Treppenhaus des Museum of Modern Art in New York schmückt und das nun, welch Glück, für die nächsten Monate als Leihgabe in der Stuttgarter Staatsgalerie zu betrachten ist.

Apropos Staatsgalerie – Grund Nummer drei! Knapp zwei Jahre nach Amtsantritt der Direktorin Christiane Lange meldet sich das wichtigste Kunstmuseum des Landes Baden-Württemberg endlich wieder dort zurück, wo es eigentlich auf Dauer sein müsste: in der Liga von Ausstellungshäusern mit weit überregionalem, möglichst internationalem Rang. Mögen die „Visionen einer neuen Welt“ darum auch die Wirklichkeit einer nach Jahren der Durststrecke endlich wieder gefestigt wirkenden Staatsgalerie beschreiben. Viereinhalb Oskar-Schlemmer-Monate in Stuttgart: die Türen sind von heute an geöffnet.