Die Enthüllungen im Zuge der „Vatileaks“-Affäre dokumentieren einen Vertrauensmissbrauch im direkten Umfeld von Papst Benedikt XVI. Dies ist ein tiefer Einschnitt in die Kirchengeschichte, meint der Rom-Korrespondent der StZ, Paul Kreiner.

Rom - Im September 1870, als italienische Truppen die Stadt Rom eroberten und dem Papst damit seinen letzten weltlichen Herrschaftsbereich raubten, igelte sich Pius IX. erbittert in seinem Palast ein. Fast sechs Jahrzehnte dauerte es, bis Päpste die feindliche Welt wieder für gesprächsfähig hielten. Nach weiteren fünfzig Jahren sprach ein führender Kardinal – Joseph Ratzinger – offen aus, was sich als Einsicht unter seinesgleichen zwingend durchgesetzt hatte: Es war gut, dass Roms Mauern gefallen waren und die Kirche den Ballast ihres weltlichen Reichs verloren hatte. So konnte ihre geistliche, ihre eigentliche Dimension umso stärker hervortreten.

 

Heute ist Ratzinger Papst. Just unter ihm fallen nun weitere Mauern. Anders als Pius IX. organisiert Benedikt XVI. keinerlei Widerstand. Er lässt gewähren. Über die weltweiten Missbrauchsskandale konnte er nach langen Jahren vatikanischen Schweigens und Vertuschens auch gar keinen Schild mehr breiten; der „Moneyval“-Kommission des Europarats hat der Vatikan – im Bemühen, als geldwäschefreier Staat zu gelten – so viele Interna über sein Finanzsystem verraten wie niemandem zuvor. Der Bericht ist für jedermann frei im Internet zugänglich.

Benedikt XVI. steht auf einmal nackt dar

Jetzt, da andere aus dem Vatikan gesickerte Dokumente (die seit Montag in Buchform auf deutsch nachzulesen sind) auch bösartige Intrigen, Streit und Personalquerelen in der Kurie unmittelbar belegen, versucht die Kirchenleitung gar nicht erst, sich in einen Mantel vorgeblicher Heiligkeit zu hüllen und sich für eine feindliche Welt unangreifbar zu machen. Der Untersuchungsrichter im Fall „Vatileaks“ durfte einen Beschluss veröffentlichen, der ein weitreichendes System von interessengeleitetem Vertrauensmissbrauch durchscheinen lässt – im eigenen Haus. Und Benedikt XVI. steht auf einmal nackt da.

Diese Vorgänge zerlegen eine über zweitausend Jahre gewachsene, im sogenannten Guten verhärtete amtskirchliche Sicht des Verhältnisses von Kirche und Welt. In den letzten, den „heroischen“, den „Heiligkeits“-Jahren Johannes Pauls II. hat sich diese sogar noch einmal triumphal verfestigt. Es war Selbstimmunisierung par excellence: Wir sind die immer Guten, die automatisch Reinen; wir haben kraft göttlichen Mandats immer recht. Die da draußen aber, das sind sündige Weltlinge, Laien, die gegen die gottgewollte Führung durch den Klerus rebellieren; es sind die „Pforten der Hölle“, die eine Vernichtung der Kirche betreiben. Jetzt aber, da die Mauern von innen fallen, verschwindet der Unterschied zu jedem Außen.

Übergang zu neuer historischen Gestalt der Kirche

Joseph Ratzinger war auch als Übergangspapst gewählt worden, der nichts ändern sollte am „großen“ Erbe Johannes Pauls II. (und seines eigenen, als früherer Chef der Glaubenskongregation). Dass Benedikt XVI. den Übergang zu einer historisch neuen Gestalt seiner Kirche markieren würde, war nicht geplant. Genauso wenig, dass sich dieser Übergang exakt fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil abzeichnet, jener Bischofsversammlung, welche die Kirche als Volk Gottes erneuern wollte. Rom sieht sich jetzt zur Demut gezwungen; im „Jahr des Glaubens“, das Benedikt XVI. ausgerufen hat, steht die Kirchenleitung unausweichlich vor der Einsicht, dass es nicht nur „die Menschen von heute“ sind, die nicht glauben wollen, sondern dass Rom selbst ein Hindernis für den Glauben darstellt.

Wie sich die Kurienbürokratie erneuern wird, was ein Papst tut, der nur „das Steuer der Kirche milde festhalten“, aber nicht zu neuen Ufern führen will – all das ist vorerst nicht absehbar. Klar ist nur: die „Vatileaks“ erschöpfen sich nicht im Dokumentenklau eines Butlers von vielleicht schlichtem Gemüt. Mit den anderen Vorgängen der Zeit schneiden sie tief in die Kirchengeschichte ein. In fünfzig Jahren, spätestens, wird ein anderer sagen: Es war gut so.