Bundespräsident Christian Wulff hat in den Niederungen der Parteipolitik nichts verloren. Ein Kommentar von StZ-Redakteur Michael Maurer.

Stuttgart - Geht er oder bleibt er? Wird er gestürzt oder gehalten? Alles ist noch möglich in der Affäre Wulff - also auch, dass sich das jämmerliche Schauspiel aus dem Hause Bellevue fortsetzt. Die politische Kultur im Land nimmt dabei immensen Schaden, wenngleich das Verbleiben Wulffs in seinem Amt keine Staats- oder Demokratiekrise auslöst (sein Rücktritt übrigens ebenfalls nicht). Weder taugt die Affäre als Beleg für angeblich "postdemokratische Zustände", noch ist es angemessen, über ein Amtsenthebungsverfahren nachzudenken. Die Gesellschaft ist selbstbewusst und mündig genug, um zur Not auch in der restlichen Amtszeit Wulffs ohne die Autorität eines herausgehobenen und geachteten Präsidenten auszukommen. Der Fall Wulff wirkt vielmehr weiter. Er offenbart, dass das bisher in Deutschland praktizierte Konzept Bundespräsident zu scheitern droht.

 

Der Bundespräsident, der weder den Mut zur vollen Wahrheit und noch die Einsicht für einen Rücktritt aufbringt, hat sein Amt, das in der Geschichte der Bundesrepublik stets positiver beurteilt wurde als alle anderen politischen Institutionen, in die Niederungen des politischen Alltags gestürzt. Eine knappe Mehrheit der Bundesbürger will Wulff zwar im Amt belassen, doch sein Verhalten empfindet ebenfalls eine Mehrheit als "peinlich", nur noch ein Drittel als "ehrlich". Es muss viel passieren, ehe die Bundesbürger von ihrem Präsidenten derart abrücken. Wulff hat es geschafft.

Machtloses Amt verlangt nach Macht einer Persönlichkeit

Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik, in der am Ende der Reichspräsident Hindenburg in fataler Weise als eine Art Ersatzkaiser regierte, wurden im Grundgesetz der Bundesrepublik die Befugnisse des Bundespräsidenten drastisch beschnitten. Er soll vor allem als Repräsentant des Staates dienen. Dass Stärke oder Schwäche des Amtes bei dieser schwammigen Definition stark vom Amtsinhaber abhängen, hat schon Theodor Heuss festgestellt. "Die Frage ist nun, wie wir, wir alle zusammen, aus diesem Amt etwas wie eine Tradition, etwas wie eine Kraft schaffen, die Maß und Gewicht besitzt und im politischen Kräftespiel sich selbst darstellen kann", erklärte der erste Bundespräsident bei seiner Antrittsrede am 12. September 1949. Es erscheint paradox, doch gerade dieses weitgehend machtlose Amt verlangt nach der Macht einer Persönlichkeit, die der Aufgabe kraft eigener Autorität und Integrität gewachsen ist - und nicht nach einer, die dies erst noch erlernen muss. Von Theodor Heuss bis Johannes Rau hat dies mal besser, mal schlechter funktioniert, obwohl auch deren Wahlen parteipolitisch motiviert waren. Bei Horst Köhler haben Mensch und Amt am Ende nicht mehr zusammengepasst - bei Christian Wulff nun schon gleich am Anfang nicht.

Jenseits der aktuellen Krise müssen sich Politik und Gesellschaft deshalb darüber klar werden, wie sie in Zukunft mit dieser Position umgehen wollen. Soll sie ihre auf der Glaubwürdigkeit des Präsidenten, der Präsidentin gründende herausgehobene Stellung im politischen System zurückerhalten oder fällt sie endgültig der parteipolitischen Machtgier anheim, der Parteizugehörigkeit oder -affinität wichtiger sind als persönliche Eignung? In diesem Fall müsste die Republik auch mit einem peinlichen Präsidenten leben, sich dann aber die Frage stellen, ob sie das Amt noch braucht.

Dem Sinne des Grundgesetzes entspräche es, dem Amt mit einer starken Persönlichkeit seine Würde zurückzugeben. Die Krisenszenarien aus den Gründerjahren der Republik, für die eine "präsidentielle Reservefunktion" gedacht war, sind dank der Stabilität des demokratischen Systems obsolet geworden. Doch auch in den modernen politisch-moralischen Herausforderungen könnte die Gesellschaft von der Reservefunktion eines starken Präsidenten profitieren. Nach den deprimierenden Wulff-Wochen wäre es die Anstrengung wert, nach solch einer Person zu suchen.