Der Erste Weltkrieg, der vor 100 Jahren seinen Lauf nahm, sollte uns so einiges lehren und die Menschen auch heutzutage noch zum Nachdenken anregen, kommentiert unser Berlin-Korrespondent Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Das Vorwort zur verheerendsten Epoche der Menschheitsgeschichte könnte sich ein Thrillerautor wie John le Carré ausgedacht haben: ein politischer Mord, verübt von Terroristen, die einer fundamentalistischen Ideologie anhängen. Das klingt alles sehr zeitgemäß. Als könnte es auch im 21. Jahrhundert jederzeit wieder passieren. In Sarajevo, wo jener Anschlag geschehen ist, herrscht bis heute keine Versöhnung. Das vergangene Wochenende hat gezeigt: es gibt dort maßgebliche Kräfte, welche die Attentäter von damals immer noch verherrlichen.

 

Der Terrorakt gegen den österreichischen Thronfolger hat letztlich den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Heute vor 100 Jahren lief bereits der Countdown zur „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts – ohne dass den meisten Zeitgenossen dies bewusst gewesen wäre. Einen Monat später wurde Europa zum Schlachtfeld. Die Folgen sind bekannt: Dutzende von Millionen Toten in zwei Weltkriegen, grundstürzende Umbrüche in der politischen Landschaft, der fatale Siegeszug extremistischer Ideologien roter und brauner Ausprägung. Die Nachwirkungen reichen bis in die Gegenwart.

Was können wir daraus lernen?

Trotz allem wirft die Gedenkmanie allerorten Fragen auf: Erzherzog Franz Ferdinand, Kaiser Wilhelm II. und wie die unglückseligen Gestalten von damals alle hießen – was geht uns das noch an? Verbindet uns mit den Ereignissen vor 100 Jahren mehr als ein lexikalisches Geschichtsinteresse, wie es in allfälligen Quizsendungen abgefragt wird? Mehr als historischer Voyeurismus? Vor allem: Was können wir daraus lernen? Kann man aus der Geschichte überhaupt lernen? Sie bietet gewiss keine Schablonen mit konkreten Handlungsanleitungen. Die Frage ist aber so sinnvoll, als würde man bezweifeln, dass es nützlich ist, schwimmen zu können, wenn man ins Wasser fällt. Unser aller Handeln beruht stets auf Erfahrungen der Vergangenheit. Das ist freilich keine Garantie, dass sich Fehler nicht wiederholen können.

Hier ist nicht der Platz, die Debatte über die Kriegsschuld nachzuzeichnen, welche die historische Fachwelt erneut entzweit. Es lässt sich aber festhalten: der Erste Weltkrieg war keineswegs unausweichlich. Bis zuletzt wäre dieser Krieg zu verhindern gewesen. Am Ende obsiegte dennoch die Gewalt. Dafür ist das Unvermögen, die Borniertheit und die Fahrlässigkeit der damals handelnden Politiker verantwortlich zu machen – und die vor 100 Jahren noch weltweit salonfähige Ansicht, Kriege seien ein legitimes Mittel der Politik.

Ein neuer Weltkrieg ist nicht völlig unmöglich

Der Konflikt in der Ukraine führt uns vor Augen, dass selbst in Europa Kriege nicht undenkbar geworden sind. Im Unterschied zu 1914 herrscht heute aber eine umfassende Gesprächskultur selbst unter Kontrahenten, wie die Kanzlerin das nennt. Sie telefoniert regelmäßig mit Putin, ungeachtet aller Provokationen. Wilhelm II. & Co. waren Gefangene ihrer eigenen Propaganda und einer fatalen Gesprächsverweigerung. Eine Politik des Dialogs und der Machtbalance auf internationaler Ebene minimiert die Risiken neuer Kriege. Zu den Grundregeln der Diplomatie zählt die Bereitschaft, die jeweils anderen verstehen zu wollen. Institutionen wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen schaffen ein System von Korrektiven. Sie ermöglichen wechselweise Kontrollen, zwingen zum stetigen Kompromiss. Die Politik erscheint dadurch schwerfällig und unübersichtlich, aber sie ist auf Einhegung der Uneinsichtigen bedacht.

Das sind alles Lehren aus den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts. Ein neuer Weltkrieg ist damit nicht völlig unmöglich geworden, aber wenig wahrscheinlich. Die Geschichte bietet keine Gebrauchsanleitung für die Gegenwart, nur Denkanstöße. Der Historiker Christopher Clark, Verfasser eines aktuellen Bestsellers über den Ersten Weltkrieg, sagt: „Die Geschichte gibt uns nur Orakel auf.“