Genauso leidenschaftlich wie VfB-Fans mitfiebern, schimpfen sie regelmäßig auf den Fernsehkommentator. Die Internetseite marcel-ist-reif.de bietet Abhilfe, denn sie lässt jeden ans Mikrofon. Ein Selbstversuch.

Stuttgart - Wenn Fußballfans meckern, werden die Fernsehkommentatoren fast genauso oft zur Zielscheibe wie Spieler, Trainer und Schiedsrichter. Die Internetplattform www.marcel-ist-reif.de bietet die Möglichkeit, auf einen Amateur der Kommentatorenzunft umzuschalten – oder es selbst zu versuchen.

 

Ihren bisher größten Boom erlebte die von zwei Berlinern ins Leben gerufene Internetseite während der Fußball-Europameisterschaft 2008. Mittlerweile hat das Interesse nachgelassen, aber während der vergangenen Champions-League-Spieltage waren trotzdem noch mehr als ein Dutzend Hobby-Kommentatoren und knapp 400 interessierte Hörer aktiv. „Es schwankt natürlich: Werden die Spiele im Free-TV oder im Pay-TV übertragen? Ist es ein Länderspiel von Deutschland oder ein langweiliger Europa-League-Spieltag? Das alles spielt eine Rolle“, sagt der Mitbegründer Moritz Eckert.

Ist Marcel Reif also wirklich der bessere Kommentator? Oder ist Über-eine-Fußballpartie-reden das reinste Kinderspiel? Ein Selbstversuch.

Mattia De Sciglio verbreitet Angst und Schrecken. Dieser Mann ist gefährlich – zwar nicht für den FC Barcelona, aber für mich. Sein Name bedeutet Alarmstufe Rot: Mattia De Sciglio. Schon morgens unter der Dusche hatte ich mir den Namen von Mailands Rechtsverteidiger immer wieder vorgesagt: Mattia De Sciglio. Ein Name wie eine Bahnschranke – lang und sperrig.

Zwölf Stunden später saß ich zusammen mit meinem guten Kumpel Marcel (Name von der Redaktion nicht geändert) irgendwo im tiefsten Stuttgart-Vaihingen vor gleich vier Bildschirmen. Der Countdown auf der Internetseite zeigte noch zehn Sekunden. Von da an würden wir, die Sportfreunde, uns mindestens 105 Minuten plus Nachspielzeit als Fernsehkommentatoren des Achtelfinalrückspiels FC Barcelona gegen den AC Mailand in der Champions League versuchen und die ganze Welt konnte uns, dem Internet sei Dank, zuhören. Tat sie dann doch nicht. Aber immerhin 17 Hörer in der Spitze tauschten den Sky-Kommentator Jonas Friedrich gegen unsere Fachsimpelei ein.

Unnützes Wissen über Kevin-Prince Boateng

Ausreichend Werbung schienen wir also im Vorfeld gemacht zu haben und wir nutzen die Möglichkeit des Internetportals auch gleich voll aus. Nach kleinen technischen Problemen gingen wir fast pünktlich, eine Viertelstunde vor Anpfiff, auf Sendung. „Yeah: Du bist On Air“ war dort zu lesen. Trotzdem mussten wir feststellen, dass 15 Minuten doch ganz schön lang werden können. So eine Aufstellung ist schnell erzählt und während Sky zwischendurch seinen Kommentator immerhin mit Werbeblöcken entlasten konnte, sahen wir uns in der Pflicht, unsere Zuhörerschaft ansprechend zu unterhalten. Aber wir waren vorbereitet und konnten mit genug Hintergrundwissen glänzen, um uns nicht gleich zu Beginn der Übertragung in Kalamitäten stürzen zu müssen.

So hangelten wir uns bis zum Anpfiff gut durch und dann nahmen uns Lionel Messi und die Katalanen zunächst einen Großteil der Arbeit ab. Wir hatten genug zu erzählen. Mittlerweile lief auch unsere Social-Media-Maschinerie auf Hochtouren und allerlei Anregungen, Lob und Kritik tickerten auf einem der Bildschirme um die Wette. Eine gute Freundin aus Spanien wollte mehr über David Villa erfahren. Wir taten ihr den Gefallen.

Leider tat uns Barcelona, nach einigen vergebenen Chancen, nicht den Gefallen, das Spieltempo vom Beginn weiter hoch zu halten. Also musste wieder das gefährliche Halbwissen herhalten, während Xavi und Co. den Ball immerzu im Mittelfeld kreisen ließen. Ich teilte dem Publikum mit, dass Kevin-Prince Boateng gemessen an der Zahl der verkauften Trikots der beliebteste Kicker der Mailänder sei. 60.000 mit seinem Namen konnten bereits verkauft werden und damit fast doppelt so viele wie vom Dortmunder Marco Reus. Ob die Zuhörer allerdings wissen wollten, dass sich der italienische Deutschland-Schreck Mario Balotelli angeblich eine lebensgroße Bronzestatute seiner Jubelpose im EM-Halbfinale für sein Wohnzimmer gießen lässt, sei dahingestellt.

Kurz vor Schluss kommt der gefürchtete Fauxpas

Mittlerweile hatte das Spiel auch wieder ein wenig Fahrt aufgenommen: Messi egalisierte das Hinspielergebnis. Halbzeitpause. Für etwas Erholung hatten wir sogar einen Studiogast eingeladen.

Am meisten Sorge hatte mir im Vorfeld die Möglichkeit bereitet, wirklich hanebüchenen Unfug live am Mikrofon zu erzählen. Bisher hatte ich eben dies vermeiden können und den vorher abgesprochenen Gerstensaft für den ersten Versprecher musste mein Co-Kommentator bereits seit der ersten Hälfte zahlen. Steht aber noch aus. Allerdings sollte auch meine Zeit noch kommen – und zwar beim Stand von mittlerweile 3:0 für Barcelona. Eine gefühlte Ewigkeit philosophierte ich darüber, dass es doch eine hervorragende Option wäre, für die letzten Minuten Cesc Fabregas von der Bank zu bringen. Ein dribbelstarker Mittelfeldregisseur, torgefährlich und international erfahren – genau der richtige Mann. Mein Nebensitzer gab mir in allen Punkten recht, um mich dann aber süffisant darauf hinzuweisen, dass Barca schon dreimal gewechselt habe und ein vierter Wechsel wohl eher nicht erlaubt sei. Da war er – der gefürchtete Fauxpas.

So gelobe ich feierlich, nicht mehr ganz so viel über Marcel Reif, Bela Rethy und Konsorten zu fluchen. Denn der Job als Kommentator ist anstrengend. Immerhin saß Mattia De Sciglio nur auf der Ersatzbank und wurde nicht eingewechselt, sodass mir dieser Zungenbrecher erspart geblieben ist.