Der Konflikt in der Türkei ist auch in der Südwestwirtschaft angekommen. Baden-württembergische Firmen stehen auf Boykottlisten, weil sie angeblich der Gülen-Bewegung nahestehen.

Chefredaktion: Anne Guhlich (agu)

Stuttgart - In sattem Blau durchzieht der Bosporus den Istanbuler Stadtteil Tarabya, der bei den Türken für seine vielen noblen Villenviertel bekannt ist. Es ergibt nicht nur wegen der idyllischen Umgebung Sinn, dass das Anwesen der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK) dort in bester Lage – nämlich direkt am Ufer des Bosporus – liegt. Es hat auch Symbolwert. Denn der Bosporus ist eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt, wenn es um den internationalen Seehandel geht.

 

Der internationale Handel ist auch das Thema von AHK-Chef Jan Nöther. Zurzeit vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als sonst. Er sitzt in einer der Villen und bemüht sich, Zuversicht zu verbreiten. Denn in diesen Tagen steht vieles auf dem Spiel, was die Türkei und Deutschland über viele Jahre hinweg aufgebaut haben – nicht nur politisch.

„Deutschland steht an der Spitze der türkischen Handelspartner“, sagt Nöther. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden zwischen den beiden Staaten 2015 Waren im Wert von 36,9 Milliarden Euro gehandelt. Die Exporte aus Deutschland beliefen sich dabei auf 22,4 Milliarden Euro. Damit liege die Türkei bei den größten Abnehmerländern noch vor Staaten wie Russland, Südkorea oder Japan, so die Statistiker.

Und davon profitiere auch der Südwesten, sagt die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU). Aus Baden-Württemberg wurden demnach 2015 für über drei Milliarden Euro Waren in die Türkei exportiert, aber auch Waren im Wert von über 2,6 Milliarden Euro importiert. In den letzten Jahren sei das Handelsvolumen stetig gewachsen, so die Wirtschaftsministerin. „Vor allem für die türkische Wirtschaft, aber auch für Unternehmen in Deutschland steht derzeit viel auf dem Spiel.“

Der Konflikt in der Türkei ist auch in Baden-Württemberg angekommen

Sie warnt davor, dass die Auseinandersetzungen im Südwesten ausgetragen werden: „Dieser Konflikt darf nicht nach Baden-Württemberg und in die baden-württembergischen Unternehmen getragen werden“, sagte sie. Doch das ist schon geschehen. Stuttgarter Firmen wie das Mobilfunkunternehmen Toker Telecom oder der Lebensmittelhersteller Garmo, der die Milchprodukte der Marke Gazi vertreibt, stehen auf Boykottlisten, die im Internet kursieren, weil sie angeblich die Gülen-Bewegung unterstützen. „Wir distanzieren uns ausdrücklich von jeglichen Vorwürfen, die uns in ein politisches Lager drängen wollen“, sagt der Sprecher von Garmo. Die Firma, die 1972 in Rommelshausen gegründet worden ist, ist übrigens ein deutsches Unternehmen und kein türkisches. „Wir sind ein Unternehmen, das lediglich Milchprodukte produziert und vertreibt.“ Politisch, religiös und weltanschaulich sei die Firma neutral.

Fast jeder fünfte Einwanderer in Baden-Württemberg hat türkische Wurzeln – dementsprechend hoch ist auch der Anteil der Beschäftigten mit türkischen Wurzeln in den Südwestfirmen. Auch dort sei der Konflikt zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern ein Thema, sagen Betriebsräte, die den Namen ihres Unternehmens in diesem Zusammenhang nicht in der Zeitung lesen wollen. „Zu sensibel“, sagen sie. „Wir haben unsere Ohren gerade ganz dicht an der Belegschaft“, betont ein Arbeitnehmervertreter. Momentan äußere sich der Konflikt noch darin, dass sich manche Kollegen nicht mehr an einen gemeinsamen Tisch setzen wollen. Die Betriebsräte wollen dafür sorgen, dass die Stimmung in den Firmen nicht kippt.

Die türkischen Wirtschaftsvertreter treibt vor allem die Sorge um, dass wegen der politischen Unruhe, die seit dem Putsch am 15. Juli noch größer geworden ist, die ausländischen Investitionen ausbleiben. Und da spielt Deutschland eine entscheidende Rolle: „Deutschland ist historisch gesehen der größte Investor in der Türkei“, sagt Nöther.

Das kumulierte Investitionsvolumen seit 1980 liegt bei über zwölf Milliarden Euro. Die deutschen Unternehmen schätzen an der Türkei als Investitionsstandort die günstigen Produktionsbedingungen, aber auch die geografische Lage zwischen Europa und den Märkten des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas. Und: In der Türkei leben über 78 Millionen Menschen, das Durchschnittsalter liegt bei 31 Jahren. Das macht die Türkei auch als Absatzmarkt interessant. Aber ohne verlässliche Rahmenbedingungen treffen Unternehmen keine Investitionsentscheidungen. Und ohne Investitionen steht die Zukunftsfähigkeit der türkischen Wirtschaft auf dem Spiel: „Insbesondere der Mittelstand wird zurückhaltend mit neuen Türkei-Investitionen umgehen“, sagt Nöther. „Doch diese benötigt die Türkei, um den Sprung von einem mit durchaus ansprechender Technologie ausgestatteten aufstrebenden Markt hin zu einer innovationsgetriebenen Wirtschaft darzustellen.“

Alle großen Südwestfirmen betreiben Standorte in der Türkei

Bislang betreibt ausnahmslos jedes große baden-württembergische Unternehmen Standorte in der Türkei. Nach Angaben des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums liegt die Zahl der Südwestfirmen mit einer türkischen Niederlassung bei über 160. Daimler etwa hat in seinem Lkw-Werk in der Provinz Aksaray seit 1986 mit inzwischen mehr als 2000 Mitarbeitern über 185 000 Lkws gefertigt. Abnehmer waren vor allem Kunden in der Türkei, seit 2001 beliefert Daimler von dort aus aber auch Zentral- und Osteuropa.

„Für das weltweite Geschäft der Bosch-Gruppe ist die Türkei aufgrund der zentralen Lage und der gut ausgebildeten Fachkräfte ein wichtiger Fertigungs- und Exportstandort“, sagt auch eine Sprecherin des Stuttgarter Technologiekonzerns Bosch. Und auch als Absatzmarkt für die Produkte und Lösungen aus dem Hause Bosch sei das Land interessant.

Der Konzern ist seit 1910 auf dem türkischen Markt präsent. Heute betreibt der Technologiekonzern dort acht Standorte, an denen insgesamt rund 16 000 Mitarbeiter unter anderem Fahrzeugkomponenten, Elektrowerkzeuge, Hausgeräte und Gasthermen fertigen. Einschließlich aller Exporte, insbesondere in Länder der EU und nach Asien, belief sich der Umsatz der türkischen Bosch-Gesellschaften im vergangenen Jahr auf 3,4 Milliarden Euro. Der Umsatz auf dem lokalen Markt lag bei 1,5 Milliarden Euro.

Der Autozulieferer Mann + Hummel aus Ludwigsburg ist mit zwei Standorten in der Türkei vertreten. Bei seinem Handelsgeschäft, das sich im Wesentlichen an den türkischen Ersatzteilmarkt richtet, verzeichnet das Unternehmen im Juli bereits einen Umsatzrückgang. Insgesamt rechnen die baden-württembergischen Unternehmen zwar mit keinem extremen Gewinneinbruch. Gleichwohl sind die Geschäftsaussichen auf dem Markt für 2017 nach Angaben des Deutschen Industrie- und Handelskammertags nur noch „gedämpft positiv“.

Trumpf schickt derzeit weniger Techniker in die Türkei

Auch im praktischen Alltag erschweren die aktuellen Entwicklungen die Zusammenarbeit mit dem von Terroranschlägen, dem Putschversuch am 15. Juli und Demonstrationen belasteten Standort.

Zum Schutz seiner Mitarbeiter schickt der Werkzeugmaschinenbauer Trumpf derzeit beispielsweise weniger Techniker in das Land. „Wir prüfen derzeit sehr sorgfältig, ob Reisen in die Türkei, beispielsweise von Servicetechnikern, notwendig sind“, so die Sprecherin. Trumpf erzielt mit seinem Türkei-Standort mit 38 Mitarbeitern einen Umsatz von 20 Millionen Euro.

Nöther appelliert an die deutschen Unternehmen, sich jetzt nicht von ihren türkischen Partnern abzuwenden. „Wir empfehlen den Unternehmen, den Dialog mit den türkischen Geschäftspartnern zu suchen und gegebenenfalls eine Sicherheitsmarge in die Transaktionen einzuplanen“, sagt Nöther. Eine Abkehr von den türkischen Partnern würde der aktuellen Situation vor Ort nicht gerecht werden. Es ist eine Zerreißprobe für die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen.