„Man muss geschmeidig sein in der Anwendung der Moral“, behauptet der Philosoph Richard David Precht. Das kommt beim Kongress um frühkindliche Bildung gut an.

Stuttgart - Brauchen Unternehmen und Bildungseinrichtungen wie Kitas und Schulen eine neue Wertekultur? Welche Bedeutung haben Moral und Fairness? Diese Fragen wurden beim zweitägigen Kongress „Invest in Future“ kontrovers diskutiert. Mit seinen verblüffenden Thesen hat der Bestsellerautor und Philosophieprofessor Richard David Precht sein Publikum – Experten aus Pädagogik, Wissenschaft, Unternehmen – am Montag zum Nachdenken gebracht. Und völlig neue Wege in der Pädagogik gefordert.

 

Muss man, wie Waltraud Weegmann, die Geschäftsführerin des veranstaltenden Konzept-e sagt, es als Herausforderung verstehen, „unsere Werte“ auch einer durch Einwanderung vielfältiger werdenden Gesellschaft zu vermitteln und zu verteidigen? Und braucht man deshalb sinnvollerweise überhaupt Erzieher aus anderen Kulturkreisen – als Brückenbauer?

Precht: Es gibt keinen angeborenen Sinn für Fairness

Precht, der als souveräner Entertainer auftrat, greift dieses Thema ganz anders auf: Er behauptet, es gebe „überall auf der Welt die gleichen Werte“. Dass sauber besser sei als schmutzig und die Wahrheit besser als die Lüge, da seien sich doch alle einig. Auch der Selbstmordattentäter wolle doch nichts Böses, sondern verstehe seine Aktion als das Gute, Wahre und Schöne, behauptet Precht. Und folgert: „Mit der Moral kann man so ziemlich alles begründen und alles rechtfertigen.“ Ganz anders sei es mit der Fairness. „Es gibt keinen angeborenen Sinn für Fairness, aber für Unfairness.“ Aber: Fairness könne gelernt werden – allerdings funktioniere dies nur im Kindesalter zwischen drei und sieben Jahren. Später könne das Gehirn die dafür nötigen Verbindungen nicht mehr bauen. Doch mit den Werten und der Moral sei das so eine Sache. „Der Satz ‚Du sollst nicht lügen’ gilt nicht“, sagt Precht und fügt schlüssig hinzu: „Wer immer die Wahrheit sagen würde, würde seine Freunde und seinen Arbeitsplatz verlieren.“ Zur Not, also bevor sie Mal um Mal verprügelt würden, „sollen Kinder im Kindergarten auch mal zurückhauen“, meint der Vater eines Sohnes. „Man muss geschmeidig sein in der Anwendung der Moral.“ Das kommt an.

Precht nennt noch weitere Steuerungsmechanismen. „Menschen sind lieber die Bösen als die Dummen – und dafür gibt es einen Grund.“ Menschen wollten eben „beachtet, geachtet, gewertschätzt, geliebt – oder wenigstens gefürchtet werden“. Und sie handelten in erster Linie danach, was andere machten.

Kinder brauchen kein Bulimielernen, meint der Autor

Im großen Bogen leitet Precht zur Arbeitswelt von morgen über, die von Digitalisierung und flüchtigen Arbeitsverhältnissen geprägt sein werde. Deshalb müsse das Bildungssystem fundamental umgebaut werden. Kinder, und da ist sich Precht einig mit Waltraud Weegmann, müssten „ein hohes Maß an Selbstorganisiertheit bekommen“. Doch dies lerne man in einer Gruppe und nicht allein. Das mehrgliedrige Schulsystem wischt er mit einem Satz vom Tisch: „Für alle der gleiche Stoff und die gleiche Notenskala, das ist Quatsch“, befindet er. Von „Bildungssozialismus“ und „Bulimielernen“ hält er nichts.

Bildungsminister, aufgepasst! Klassenverbände würden nach der sechsten Klasse abgeschafft, wenn es nach Precht ginge. Stattdessen würde er die Kinder in Kleingruppen nach ihren persönlichen Interessen sortieren. Das Ziel: Gruppenidentität schaffen. Schachspieler, Vogelfreunde, Mathegenies – von individuellen Lerncoaches begleitet. Auch Konkurrenz sei nützlich – aber nicht zwischen einzelnen Schülern, sondern zwischen Gruppen. Und natürlich nicht hassdominiert, sondern bitteschön spielerisch. Um einen Flughafen zu bauen müsse man gut organisiert sein, da brauche man „nicht so einen Sozialnerd wie Mehdorn“, sondern jemanden, der auch mal über sich selber lachen könne. Zack, ausgeteilt! Applaus. „Der hat mir“, meint eine Teilnehmerin, „aus der Seele gesprochen“.