Zehn Jahre ist es her, dass er zuletzt auf einer Stuttgarter Bühne stand. Der kanadische Rockmusiker Neil Young hat zehntausend Zuschauer in der Schleyerhalle in Wallung gebracht. Die Show war ganz nach alter Schule.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Kinder, wie die Zeit vergeht! Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, dass Neil Young zuletzt auf einer Stuttgarter Bühne stand. Beziehungsweise saß. Seinerzeit gab es nämlich einen Tastenabend in der Liederhalle mitten in der Stadt am Berliner Platz. Nur an Klavier, Harmonium und Flügel bestritt der Kanadier damals einen Aufritt, der nicht nur denkwürdig bleiben sollte, weil dies das erste Popkonzert in Stuttgart war, bei dem die Eintrittskarten über hundert Euro kosteten. Sondern eben auch wegen jener kammermusikalischen Anmutung, die einen glauben ließ, der damals bald Sechzigjährige würde nun gediegen und gemächlich sein Alterswerk antreten. Aber so kann man sich täuschen.

 

Ziemlich genau 35 Jahre ist es wiederum her, dass Neil Young auf seine „Rust never sleeps“-Tournee ging. Den Konzertfilm kann man sich, so man damals nicht dabei war, als DVD und in Ausschnitten auch im Internet angucken. Da flitzten kleine Männchen kuttenbewehrt über die Bühne, dort steht eine Menge überdimensionierten Zierrats herum, und dort wird die amerikanische Nationalhymne durch den E-Gitarren-Verzerrer gejagt. Wie es auf dieser Tour überhaupt ganz schön rockig zuging, denn neben Songs des gleichnamigen und auch nicht mehr brandaktuellen Albums wie „Powderfinger“ oder „Sedan Delivery“ wurden auch noch eine ganze Menge handfeste ältere Kracher wie „Cinnamon Girl“ oder „Like a Hurricane“ gespielt.

So gesehen war das, was die zehntausend Zuschauer nun am Montagabend in der ebenso bestens gefüllten wie temperierten Stuttgarter Schleyerhalle erleben durften, eine Art Reminiszenz des Popmusikers Neil Young an sich selbst.

Denn zu sehen gab es da tatsächlich, und wer hätte das von Neil Young anno 2013 erwartet, eine richtige Bühnenchoreografie. Das war die Szene: Ein paar zauselige Männlein in weißen Laborkitteln, verschrobene Doctores im Albert-Einstein-Look, wieseln und wuseln eingangs über die Bühne, Haare raufend, gestikulierend, miteinander zankend, im Kreis wandernd sinnierend, so albern wie zweckfrei.

Die Nordamerikaner lassen die deutsche Nationalhymne spielen

Derweil heben sich im Hintergrund der Bühne riesige Flightcases, um ebenso heillos überdimensionierte Marshall-Verstärkerturm-Attrappen freizulegen, zwischen denen das Schlagzeug eingezwängt ist, flankiert an den oberen Bühnenrändern von zwei Videowänden, die in alte Reisekoffern eingekleidet sind. Es läuft, Spaß muss sein, dazu „A Day in the Life“ von den Beatles. Sodann treten Neil Young und der Schlagzeuger Ralph Molina, der Gitarrist „Poncho“ Sampedro und der Bassist Billy Talbot als seine Band Crazy Horse in beiläufigster Nonchalance hervor, der Maestro lupft seinen Hut, legt die Pranke auf die Brust – und schmetternd ertönt, nein, nicht die amerikanische, sondern das Lied der Gastgeber, die deutsche Nationalhymne!

Man dürfte angesichts dieses launigen Vorspiels also gleich zum Auftakt philosophieren über die Vexierspiele, die dieser Songwriter hier vorsetzt. Aber dann würde man vielleicht ohnehin über die Ambivalenz des Musikers Neil Young sinnieren müssen, der fünfzig Autos in seiner Garage stehen hat, aber für den Umweltschutz eintritt. Oder der sich als unverbesserlicher Outlawhippie positioniert, aber einer der ersten war, der die Terroranschläge vom 11. September 2011 künstlerisch aufarbeitete, und zwar in der pathetisch-patriotischen Hymne „Let’s roll“, der also. . . ach was, flugs sind die Herren schon dabei, das Eröffnungsstück „Love and only love“ zu servieren.

Und schon da möchte man den kauzigen Knaben Neil Young herzen. Für dieses schräge Eröffnungsmanöver. Für den unorthodoxen Einstieg mit einem Zehnminüter (nicht dem letzten an diesem satt über zwei Stunden währenden Abend). Für das mackerhafte Kumpelgehabe mit seinem kongenialen Gitarristen Frank „Poncho“ Sampedro, das man bei jeder Mainstream-Rockband kompromisslos und unmissverständlich verfluchen würde.

Auch die ganz alten Titel kommen zum Zuge

Man möchte ihn aber auch herzen für das schier endlose Gitarrengegniedel überhaupt, das der gerne so apostrophierte „Godfather of Grunge“ Neil Young kredenzt, der angeblich als Vorbild für Bands wie Nirvana oder Pearl Jam gilt, die das Gitarrensolo als solches aber strikt ablehnen. Für all die immanenten klaren Widersprüche also, die den dann doch außerordentlich enigmatischen Künstler Neil Young kennzeichnen.

Nicht rastend, nicht rostend spielt der gute Mann sodann das eingangs erwähnte, ganz schön angejahrte Lied „Powderfinger“, wie er sich ohnehin von der ebenso lästigen wie vermeintlichen Pflicht freimacht, sein neues Album vorstellen zu wollen beziehungsweise zu müssen. „Psychedelic Pill“, „Ramada Inn“ und „Walk like a Giant“ bietet er von dieser Scheibe, der Rest ist alt. Oder steinalt.

„Cinnamon Girl“ zum Beispiel ertönt auch noch in der Schleyerhalle, da wären wir wieder bei dem 35 Jahre alten Konzertfilm des fast siebzigjährigen Sängers, der vor fünfzig Jahren seine erste Single veröffentlichte und auf dessen vor sage und schreibe 44 Jahren veröffentlichtem Debütalbum sich dieser Song befindet. Hut ab auf jeden Fall also allein deshalb.

Selbst Hörgeräteakustiker dürften zufrieden sein

Das Ganze rumpelt und schmirgelt und brummt und sägt in der Schleyerhalle in weder highfideler noch wohnzimmerfähiger, aber auch nicht grotesk überdrehter Lautstärke aus den Schallwandlern, sodass zumindest der Bundesverband der Gehörgeräteakustiker nichts einzuwenden haben dürfte. Sogar die strengsten Puristen kommen auf ihre Kosten. Ein kleines Interludium gibt es.

Neil Young spielt, von den Kollegen frei gelassen, „Heart of Gold“, einen seiner eigenen größten Klassiker, solo intoniert an Gitarre und Mundharmonika. Und danach „Blowing in the Wind“ von Bob Dylan, das wohl bekannteste, aber natürlich in Millionen von Fußgängerzonen auch hinreichend abgedroschenste Lied seines. . . darf man sagen: ärgsten Konkurrenten? Nein, das wäre in jeder Hinsicht fehlgedeutet. Eine Reminiszenz ist auch das.

Das Konzertende zeitigt überraschenderweise eine Zugabe. Neil Young spielt „Like a Hurricane“, dann doch noch einen echten Klassiker. Nachdem er zuvor einen Weltrekord in Maulfaulheit aufgestellt hatte, nämlich im wahrsten Wortsinnen zwei Stunden lang buchstäblich kein einziges Wort redete, presst er nun ein „Thank you“ durch die Lippen. Dann zieht er, wie eingangs bei der Hymne, abermals seinen Hut. Angesichts dieses hervorragenden Abends nicht zum letzten Mal, hoffentlich.