Der Korruptionsskandal von Venedig ist nicht der einzige in einem Land, das sich mit der Bekämpfung zu viel Zeit gelassen hat – und es den Kriminellen immer noch leicht macht.

Rom - Die großen Debatten des Sommers sind geschlagen. Italiens Parlamentarier genießen die Ferien. Nur Giancarlo Galan nicht. Er sitzt im Knast. Das Abgeordnetenhaus hat dem 57-Jährigen die Immunität entzogen, und aus der Tatsache, dass derlei seit 1955 erst zum siebten Mal geschehen ist, lässt sich schließen, dass der Anfangsverdacht gewaltig gewesen sein muss.

 

Mehr als vier Millionen Euro an Bestechungsgeldern, so glaubt die Staatsanwaltschaft in Venedig nachweisen zu können, hat Galan eingestrichen, und nicht nur das: zusammen mit sechs weiteren Untersuchungshäftlingen gilt er als eine Zentralfigur in jenem dicken venezianischen Korruptionsnetz, das sich um die lukrative Großbaustelle des Mose gesponnen hat, also um das fünfeinhalb Milliarden Euro teure Damm-, Tor- und Schleusensystem, mit dem die Lagunenstadt von 2016 oder 2017 an vor ihrem Untergang im Hochwasser geschützt werden soll.Der mutmaßliche Regisseur der illegalen Geldverteilung, welche den italienischen Steuerzahler bisher schon eine Milliarde Euro gekostet haben dürfte, sonnt sich derweil unerreichbar in seiner kalifornischen Villa. Er heißt Giovanni Mazzacurati, und er hat an die drei Jahrzehnte lang das „Konsortium Neues Venedig“ (CVN) geleitet, in dem sich lokale und regionale Baufirmen öffentliche Aufträge gegenseitig zugeschoben haben, ohne eine einzige Ausschreibung.

Verschiedene Institutionen geschmiert

Das Konsortium ist bis heute der offizielle Partner des italienischen Staates bei Mose. Um dies zu bleiben, um das Geld für die Fortsetzung der Arbeiten immer rechtzeitig bewilligt zu bekommen, um dem Staat beispielsweise für die Lieferung von Steinen oder Sand – zum Teil über Briefkastenfirmen – überhöhte Preise in Rechnung stellen zu können, „musste man alle schmieren“, sagte CVN-Chef Mazzacurati: „So war das System. Es ist nicht Mose krank, sondern Italien.“

Mit dem ergaunerten Geld schmierte man unter anderem das staatliche Wasserwirtschaftsamt, den „Magistrato delle Acque“, der als eigentlich unabhängige Instanz die Bauarbeiten hätte kontrollieren sollen. Man schmierte einen General der Finanzpolizei, um vor etwaigen Kontrollen beizeiten gewarnt zu werden, man gönnte sich gegenseitig die eine oder andere Leckerei, und man fütterte jene, die laut Staatsanwalt Carlo Nordio „von unersättlicher Gier und von absolutem Desinteresse an einer guten Geschäftsführung“ geleitet waren: die Politiker.

Auch bei der Expo 2015 hat sich ein Sumpf aufgetan

Hinweggefegt ist Venedigs Bürgermeister Giorgio Orsoni, der vom CVN auf Anraten seiner sozialdemokratischen Partei „nur“ eine Wahlkampfunterstützung erbeten hatte (mit Orsoni ist der ganze Stadtrat zurückgetreten). Und Giancarlo Galan, wie gesagt, sitzt im Gefängnis. Der Parteifreund von Silvio Berlusconi war von 1995 bis 2010, also fünfzehn Jahre lang, Gouverneur der Region Venetien. Zusammen mit seinem Minister für öffentliche Arbeiten und seiner Sekretärin verteilte er Gaben und Aufgaben, an wen es ihm beliebte, und für die freundliche Zuneigung zum Mose-Konsortium bezog er von diesem laut Staatsanwaltschaft ein Taschengeld von regelmäßig einer Million Euro pro Jahr. Wäre Galan nicht so unvorsichtig gewesen, wesentlich mehr Geld auszugeben, als er seiner Steuererklärung nach überhaupt zur Verfügung hatte, wer weiß, vielleicht wäre ihm die Finanzpolizei im venezianischen Sumpf gar nicht auf die Spur gekommen.

Sumpf hat sich aber auch 250 Kilometer weiter westlich aufgetan, ebenfalls bei einer staatlicherseits aus Prestigegründen mit viel Geld ausgestatteten Großbaustelle: der Expo 2015 in Mailand, der Weltausstellung, bei der sich 134 Länder 30 Millionen erwarteten Besuchern präsentieren wollen.

Mailand war ein Alarmzeichen

Das Korruptionssystem war das gleiche wie in Venedig – mit dem einzigen Unterschied, dass in Mailand offenbar keine aktiven Politiker auf der Gehaltsliste von Unternehmern und Geschäftemachern standen, sondern nur einige „Ex“, die man bei der Staatsanwaltschaft noch aus dem gewaltigen Parteispendenskandal „Tangentopoli“ von 1992/92 in Erinnerung hatte.

Mailand, nur wenige Tage vor Venedig aufgeflogen, war für den darüber „irre verbitterten“ Regierungschef Matteo Renzi ein Alarmzeichen von höchster Dringlichkeit. Er handelte. Dem für seinen Einsatz gegen die Camorra berühmten Staatsanwalt Raffaele Cantone, den er kurz zuvor an die Spitze der bis dahin machtlosen „Nationalen Antikorruptionsagentur“ gesetzt hatte, schob Renzi alle Überwachungs- und Eingriffsrechte zu, die er ihm ohne Befassung des Parlaments nur zuschieben konnte.

Kampf gegen Korruption und Mafia

Mit Gesetzesänderungen, die es aber vor der Sommerpause wieder einmal nicht durch das Parlament geschafft haben, wollen Renzi und Cantone den Kampf gegen Korruption und Mafia auf eine Stufe stellen und mit den gleichen Mitteln führen.Jetzt werden die lange bekannten Missstände öffentlich diskutiert: die Senkung der Strafen unter Berlusconi beispielsweise, vor allem aber die kurzen Verjährungsfristen, die bei den langen Ermittlungs- und den noch längeren Prozesszeiten praktisch allen Korruptionsbeteiligten ein sorgloses Handeln erlauben: „Da können wir noch so stark mit Strafen drohen“, sagt Staatsanwalt Nordio, „die Leute juckt das nicht.“ Da wird über eine Bürokratie und eine Verwaltung diskutiert, die zeitgerechte Arbeiten und termingerechtes Fertigwerden nur in geöltem Zustand erlaubt – oder wenigstens über den landesweit verbreiteten Eindruck von Unternehmern, dass man Scheine am besten gleich vorauseilend über die Schreibtische schiebt.

In die Schlagzeilen schafft es erstmals ein Satz des Nationalen Rechnungshofs, der Bestechung als „allgemein verbreitet“ bezeichnet, es aber als „unnütz und unmöglich“ ablehnt, die genauen Schäden zu beziffern, den Korruption anrichtet: „Man muss ja auch den abschreckenden Effekt auf inländische und ausländische Investoren berücksichtigen.“ Als Premier Renzi die Expo-Baustelle besuchte, sagte er: „Wir werden pünktlich zum 1. Mai 2015 fertig“, sagte er: „Es wird ein Sieg für Italien.“ Seinen Antikorruptionsbeauftragten Cantone hatte Renzi in die erste Reihe gesetzt.